CANETTI, Elias
Masse und Macht
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Die Masse braucht eine Richtung.
Sie ist in Bewegung und bewegt sich auf etwas zu. Die Richtung, die allen Angehörigen gemeinsam ist, stärkt das Gefühl von Gleichheit. Ein Ziel, das außerhalb jedes einzelnen liegt und für alle zusammenfällt, treibt die privaten, ungleichen Ziele, die der Tod der Masse wären, unter Grund. Für ihren Bestand ist die Richtung unentbehrlich. Die Furcht vor Zerfall, die immer in ihr rege ist, macht es möglich, sie auf irgendwelche Ziele zu lenken. Die Masse besteht, solange sie ein unerreichtes Ziel hat. – Aber es ist noch eine dunkle Bewegungstendenz in ihr, die zu übergeordneten und neuen Bildungen führt. Es ist oft nicht möglich, die Natur dieser Bildungen vorauszusagen.
Jede dieser vier Eigenschaften, die man festgestellt hat, kann in größerem oder geringerem Maße vorhanden sein. Je nachdem man die eine oder die andere von ihnen ins Auge faßt, gelangt man zu einer verschiedenen Einteilung der Massen.
Es war die Rede von offenen und geschlossenen Massen, und es ist auch erklärt worden, daß diese Einteilung sich auf ihr Wachstum bezieht. Solange ihr Wachstum nicht behindert wird, ist die Masse offen; sie ist geschlossen, sobald man ihr Wachstum begrenzt.
Eine andere Unterscheidung, von der man noch hören wird, ist die zwischen rhythmischen und stockenden Massen. Sie bezieht sich auf die beiden nächsten Haupteigenschaften, auf Gleichheit und Dichte nämlich, und zwar auf beide zusammen.
Die stockende Masse lebt auf ihre Entladung hin. Aber sie fühlt sich dieser sicher und verzögert sie. Sie wünscht eine relativ lange Periode der Dichte, um sich auf den Augenblick der Entladung vorzubereiten. Man möchte sagen, sie erwärmt sich an ihrer Dichte und hält so lange wie möglich mit der Entladung zurück. Der Prozeß der Masse beginnt bei ihr nicht mit Gleichheit, er beginnt mit Dichte. Die Gleichheit wird hier zum hauptsächlichen Ziel der Masse, in das sie schließlich mündet; jeder gemeinsame Schrei, jede gemeinsame Äußerung drückt diese Gleichheit dann gültig aus.
Ganz im Gegensatz dazu fallen bei der rhythmischen Masse Dichte und Gleichheit von Anfang an zusammen. Alles hängt hier an Bewegung. Alle Körperreize, die zu erfolgen haben, sind vorausbestimmt und werden im Tanze weitergegeben. Durch Ausweichen und Wiederannäherung wird die Dichte bewußt gestaltet. Die Gleichheit aber stellt sich selbst zur Schau. Durch Vorspielen von Dichte und Gleichheit wird das Massengefühl kunstvoll hervorgerufen. Diese rhythmischen Gebilde entstehen rasch, und es ist die physische Ermüdung allein, die ihnen ein Ende bereitet.
Das nächste Begriffspaar, das der langsamen und der raschen Masse, bezieht sich ausschließlich auf die Art ihres Ziels. Die auffallenden Massen, von denen gewöhnlich die Rede ist, die einen so wesentlichen Teil unseres modernen Lebens ausmachen, die politischen, sportlichen, kriegerischen Massen, die wir heute täglich vor Augen haben, sind alle rasch . Sehr verschieden von ihnen sind die religiösen Massen des Jenseits oder die der Pilger ; das Ziel bei diesen ist in der Ferne, der Weg ist lang und die wahrhaftige Bildung der Masse ist in ein weit abgelegenes Land oder in ein Himmelreich verschoben. Von diesen langsamen Massen bekommen wir eigentlich nur die Zuflüsse zu sehen, denn die Endzustände, nach denen sie streben, sind unsichtbar und für Ungläubige nicht zu erreichen. Die langsame Masse sammelt sich langsam und sieht sich selbst als Beständiges in weiter Ferne.
Alle diese Formen, deren Wesen hier nur angedeutet worden ist, bedürfen einer genaueren Betrachtung.
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Die Fluchtmasse wird durch Drohung hergestellt. Es gehört zu ihr, dass alles flieht; alles wird mitgezogen. Die Gefahr, von der man bedroht wird, ist für alle dieselbe. Sie konzentriert sich auf einen bestimmten Ort. Sie macht keinen Unterschied. Sie kann die Bewohner einer Stadt bedrohen oder alle, die eines Glaubens sind, oder alle, die ein und dieselbe Sprache sprechen. Man flieht zusammen, weil es sich so besser flieht. Die Erregung ist dieselbe: die Energie der einen steigert die der anderen, die Mensche stoßen einander in dieselbe Richtung fort…
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Die Blendung
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In gehobener Laune kehrte Kien nächsten Sonntag von seinem Spaziergang heim. An Sonntagen waren die Straßen um diese frühe Zeit leer. Ihren freien Tag traten die Menschen mit Schlaf an. Dann warfen sie sich in ihre besten Kleider. Vor dem Spiegel verbrachten sie die ersten wachen Stunden in Andacht. Während der übrigen erholten sie sich von ihren Fratzen an andern. Zwar war jeder sich selbst der Beste. Aber um es zu beweisen, ging man unter Mitmenschen. Wochentags schwitzte oder schwatzte man für sein Brot. Sonntags schwatzte man umsonst. Mit dem Ruhetag war ursprünglich ein Schweigetag gemeint. Was aus dieser wie aus allen Institutionen geworden war, ihr genaues Gegenteil, sah Kien mit Spott. Er hatte für einen Ruhetag keine Verwendung. Denn er schwieg und arbeitete immer.
Vor seiner Wohnungstür fand er die Haushälterin. Offenbar wartete sie schon lange auf ihn.
»Der junge Metzger vom zweiten Stock war da. Sie haben's ihm versprochen. Sie sind schon zu Hause, hat er gesagt. Das Stubenmädchen hat gesehen, wie jemand Großer über die Treppe geht. In einer halben Stunde kommt er wieder. Er will nicht stören, es ist nur wegen dem Buch.«
Kien hatte nicht hingehört. Als das Wort »Buch« fiel, wurde er aufmerksam und erfaßte nachträglich, worum es sich handelte. »Er lügt. Ich habe nichts versprochen. Ich habe gesagt, daß ich ihm Bilder aus Indien und China zeigen werde, wenn ich einmal Zeit habe. Ich habe nie Zeit. Schicken Sie ihn weg!«
»Die Leute werden gleich unverschämt. Ich bitt Sie, das ist eine saubere Rasse. Der Vater war ein gewöhnlicher Arbeiter. Das möcht ich wissen, wo der sein Geld her hat. Aber das kommt davon. Jetzt heißt es immer: Alles für die Kinder. Es gibt keine Strenge mehr. Frech sind die Kinder, es ist nicht zum glauben. In der Schule spielen sie immerwährend und gehen mit dem Lehrer spazieren. Ich bitt Sie, wie war das zu unserer Zeit! Wenn ein Kind nichts hat lernen wollen, haben's die Eltern aus der Schule genommen und in die Lehre gegeben. Zu einem strengen Meister, damit es was lernt. Heut ist nichts mehr los. Ja, wollen die Menschen vielleicht arbeiten? Es gibt keine Bescheidenheit mehr. Schauen Sie sich die jungen Leute nur an, wenn sie am Sonntag spazierengehen. Jedes Arbeitermädel muß eine neue Bluse haben. Ich bitt Sie, wozu brauchen sie denn das teure Zeug? Sie gehen ja eh alle baden und ziehen's wieder aus. Und mit den Burschen baden s' zusammen. Wo hat's das früher gegeben? Die sollen lieber was arbeiten, das wär viel gescheiter. Ich sag immer, wo nehmen die das Geld dazu her? Es wird ja alles von Tag zu Tag teurer. Die Kartoffeln kosten bereits das Doppelte. Ist es ein Wunder, wenn die Kinder frech werden? Die Eltern erlauben ihnen alles. Früher haben s' den Kindern ein paar Ohrfeigen heruntergehaut, rechts und links. Da hat ein Kind parieren müssen. Es ist nicht mehr schön auf der Welt. Solang sie klein sind, lernen sie nichts, und wenn sie groß sind, arbeiten sie nichts.« Kien, erst gereizt, weil sie ihn mit einer langen Rede aufhielt, spürte bald eine Art erstauntes Interesse für ihre Worte. Diese ungebildete Person legte so viel Wert aufs Lernen. Sie hatte einen guten Kern in sich. Vielleicht seit sie täglich mit seinen Büchern umging. Auf andre ihres Standes hatten die Bücher nicht abgefärbt. Sie war empfänglicher, vielleicht sehnte sie sich nach Bildung.
»Sie haben ganz recht«, sagte er, »es freut mich, daß Sie so vernünftig denken. Lernen ist alles.«
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