ROTH, Joseph
Radetzkymarsch
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Die Trottas waren ein junges Geschlecht. Ihr Ahnherr hatte nach der Schlacht bei Solferino den Adel bekommen. Er war Slowene. Sipolje – der Name des Dorfes, aus dem er stammte – wurde sein Adelsprädikat. Zu einer besondern Tat hatte ihn das Schicksal ausersehn. Er aber sorgte dafür, daß ihn die späteren Zeiten aus dem Gedächtnis verloren. In der Schlacht bei Solferino befehligte er als Leutnant der Infanterie einen Zug. Seit einer halben Stunde war das Gefecht im Gange. Drei Schritte vor sich sah er die weißen Rücken seiner Soldaten. Die erste Reihe seines Zuges kniete, die zweite stand. Heiter waren alle und sicher des Sieges. Sie hat-ten ausgiebig gegessen und Branntwein getrunken, auf Kosten und zu Ehren des Kaisers, der seit gestern im Felde war. Hier und dort fiel einer aus der Reihe. Trotta sprang flugs in jede Lücke und schoß aus den verwaisten Gewehren der Toten und Verwundeten. Bald schloß er dichter die gelichtete Reihe, bald wieder dehnte er sie aus, nach vielen Richtungen spähend mit hundertfach geschärftem Auge, nach vielen Richtungen lauschend mit gespanntem Ohr. Mitten durch das Knattern der Gewehre klaubte sein flinkes Gehör die seltenen, hellen Kommandos seines Hauptmanns. Sein scharfes Auge durchbrach den blaugrauen Nebel vor den Linien des Feindes. Niemals schoß er, ohne zu zielen, und jeder seiner Schüsse traf. Die Leute spürten seine Hand und seinen Blick, hörten seinen Ruf und fühlten sich sicher.
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Dieses Reich muß untergehen. Sobald unser Kaiser die Augen schließt, zerfallen wir in hundert Stücke. Der Balkan wird mächtiger sein als wir. Alle Völker werden ihre dreckigen, kleinen Staaten errichten, und sogar die Juden werden einen König in Palästina ausrufen. In Wien stinkt schon der Schweiß der Demokraten, ich kann’s auf der Ringstraße nicht mehr aushalten. Die Arbeiter haben rote Fahnen und wollen nicht mehr arbeiten. Der Bürgermeister von Wien ist ein frommer Hausmeister. Die Pfaffen gehen schon mit dem Volk, man predigt tschechisch in den Kirchen. Im Burgtheater spielt man jüdische Saustücke, und jede Woche wird ein ungarischer Klosettfabrikant Baron. Ich sag‘ euch, meine Herren, wenn jetzt nicht geschossen wird, ist’s aus. Wir werden’s noch erleben!
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Hotel Savoy
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Stasia heißt das Mädchen. Das Programm des Varietés nennt ihren Namen nicht. Sie tanzt auf billigen Brettern vor einheimischen und Pariser Alexanders. Sie macht ein paar Wendungen in einem orientalischen Tanz. Dann setzt sie sich mit verschränkten Beinen vor einen Weihrauchkessel und wartet das Ende ab. Man kann ihren Körper sehn, blaue Schatten unter den Armen, schwellenden Ansatz einer braunen Brust, die Rundung der Hüfte, den Oberschenkel aus plötzlich aufhörendem Trikot.
Es gab eine lächerliche Blechmusik, die Geigen fehlten, und das schmerzte fast. Es gab alte Witzlieder, modrige Späße eines Clowns, einen dressierten Esel mit roten Ohrenläschchen, der geduldig auf und ab trippelte, weiße Kellner, die wie Bierkeller rochen, mit überschäumenden Krügen zwischen dunklen Reihen, der Glanz eines gelben Scheinwerfers fiel schräg aus willkürlicher Deckenöffnung, ein finsterer Bühnenhintergrund schrie wie ein aufgerissener Mund, der Ansager krächzte, Bote trauriger Kunden.
Am Ausgang warte ich; es ist wieder wie einst; als wartete ich, ein Knabe, im Seitengäßchen, gedrückt in den Schatten eines Haustors und in ihn verfließend, bis rasche, junge Tritte erschallen, aus dem Pflaster erblühen, wunderbar aus unfruchtbaren Kieselsteinen.
Mit Frauen und Männern kam Stasia daher, die Stimmen rannen durcheinander.
Lange war ich einsam unter Tausenden gewesen. Jetzt gibt es tausend Dinge, die ich teilen kann: den Anblick eines krummen Giebels, ein Schwalbennest im Klosett des Hotels Savoy, das irritierende, biergelbe Aug' des alten Liftknaben, die Bitterkeit des siebenten Stockwerks, die Unheimlichkeit eines griechischen Namens, eines plötzlich lebendigen grammatikalischen Begriffs, die traurige Erinnerung an einen boshaften Aorist, an die Enge des elterlichen Hauses, die plumpe Lächerlichkeit Phöbus Böhlaugs und Alexanderls Lebensrettung durch den Train. Lebendiger wurden die lebendigen Dinge, häßlicher die gemeinsam verurteilten, näher der Himmel, untenan die Welt.
Die Tür des Fahrstuhls war offen, Stasia saß da. Ich verbarg meine Freude nicht, wir wünschten einander guten Abend wie alte Bekannte. Ich empfand den unvermeidlichen Liftboy bitter, er tat, als wüßte er nicht, daß ich im sechsten Stock aussteigen mußte, fuhr uns beide in den siebenten; hier stieg Stasia aus, verschwand in ihrem Zimmer, während der Liftmann noch wartete, als müßte er hier Passagiere mitnehmen: Wozu wartet er mit gelben Hohnaugen?
Ich gehe also langsam die Treppe hinab, lausche, ob der Fahrstuhl sich in Bewegung setzt; endlich, ich bin in der Mitte, höre ich des Fahrstuhls glucksendes Geräusch und kehre um. Auf der obersten Stiege schickt sich der Liftmensch gerade an hinunterzusteigen. Er hat den Fahrstuhl leer laufen lassen und geht mit langsamer Bosheit zu Fuß.
Stasia hat wahrscheinlich mein Klopfen erwartet.
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Das Spinnennetz
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Kapitel 2
Manchmal überfiel ihn sein eigener Stolz wie eine fremde Gewalt, und er fürchtete seine Wünsche, die ihn gefangenhielten. Aber sooft er durch die Straßen ging, hörte er Millionen fremder Stimmen, flimmerten Millionen Buntheiten vor seinen Augen, die Schätze der Welt klangen und leuchteten. Musik wehte aus offenen Fenstern, süßer Duft von schreitenden Frauen, Stolz und Gewalt von sicheren Männern. Sooft er durch das Brandenburger Tor ging, träumte er den alten, verlorenen Traum vom siegreichen Einzug auf schneeweißem Roß, als berittener Hauptmann an der Spitze seiner Kompanie, von Tausenden Frauen beachtet, vielleicht von manchen geküßt, von Fahnen umflattert und Jubel umbraust. Diesen Traum hatte er in sich getragen und liebevoll genährt vom ersten Augenblick seines freiwilligen Eintritts in die Kaserne, durch die Entbehrungen und Lebensnöte des Krieges. Die schmerzende Beschimpfung des Wachtmeisters auf der Exerzierwiese hatte dieser Traum gelindert, den Hunger auf tagelangem Marsch, das brennende Weh in den Knien, den Arrest in dunkler Zelle, das betäubende, qualvolle Weiß der verschneiten Wachtpostennacht, den stechenden Frost in den Zehen.
Der Traum drängte zum Ausbruch wie eine Krankheit, die lange unsichtbar in Gelenken, Nerven, Muskeln lebt und alle Blutgefäße des Körpers erfüllt, der man nicht entrinnen kann, es sei denn, man entrinne sich selbst. Und zufolge jener unbekannten Gewalt, welche Theodor schon oft geholfen hatte und die ihn lehrte, daß der Erfüllung jeder qualvollen Sehnsucht im letzten Moment eine günstige äußere Bedingung auf halbem Wege entgegenkommt, ereignete es sich, daß er den Doktor Trebitsch im Hause Efrussis kennenlernte.
In der ersten Viertelstunde ihrer Bekanntschaft sprach der Doktor Trebitsch unermüdlich, und sein blonder, langer, in sanften, dunkelnden, an den Rändern gelichteten Strähnen herabfließender Bart bewegte sich vor den Augen Theodors in regelmäßigem Auf und Ab und störte die Aufmerksamkeit des Zuhörers. Leise plätscherten die Worte des Blondbärtigen, eines und das andere blieb eine Weile in Theodor haften und verwehte wieder. Noch nie war er einem Vollbart so nahe gewesen. Plötzlich stöberte ihn der Klang eines Namens aus seiner betäubten Zerstreutheit auf. Es war der Name des Prinzen Heinrich. Und mit dem Instinkt eines Mannes, der zufällig einem Prunkstück aus seiner verschütteten Vergangenheit begegnet und es mit rettend hastiger Gebärde an die Brust reißt, rief Theodor: »Ich war Leutnant im Regiment Seiner Hoheit, des Prinzen Heinrich!«
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Die Kapuzinergruft
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Die Gnade des Kaisers erstreckte sich noch auf seinen Sohn, der Bezirkshauptmann wurde, und auf den Enkel, der als Leutnant der Jäger im Herbst 1914 in der Schlacht bei Krasne-Busk gefallen ist. Ich habe ihn niemals gesehn, wie überhaupt keinen von dem geadelten Zweig unseres Geschlechts. Die geadelten Trotts waren fromm-ergebene Diener Franz Josephs geworden. Mein Vater aber war ein Rebell. Er war ein Rebell und ein Patriot, mein Vater — eine Spezies, die es nur im alten Österreich-Ungarn gegeben hat. Er wollte das Reich reformieren und Habsburg retten. Er begriff den Sinn der österreichischen Monarchie zu gut. Er wurde also verdächtig und mußte fliehen. Er ging, n jungen Jahren, nach Amerika. Er war Chemiker von 3eruf. Man brauchte damals Leute seiner Art in den groß-trüg wachsenden Farbenfabriken von New York und 2hilcago. Solange er arm gewesen war, hatte er wohl nur heimweh nach Korn gefühlt. Als er aber endlich reich geworden war, begann er, Heimweh nach Österreich zu üblen. Er kehrte zurück. Er siedelte sich in Wien an. Er hatte Geld, und die österreichische Polizei liebte Menschen, die Geld haben. Mein Vater blieb nicht nur unbeteiligt. Er begann sogar, eine neue slowenische Partei zu gründen, und er kaufte zwei Zeitungen in Agram. Er gewann einflußreiche Freunde aus der näheren Umgebung des Erzherzog Thronfolders Franz Ferdinand.
Mein Vater träumte von einem slawischen Königreich unter der Herrschaft der Habsburger. Er träumte von einer Monarchie der Österreicher, Ungarn und Slawen. Und mir, der ich sein Sohn bin, möge es an dieser Stelle gestattet sein, zu sagen, daß ich mir einbilde, mein Vater hätte vielleicht den Gang der Geschichte verändern können, wenn er länger gelebt hätte. Aber er starb, etwa anderthalb Jahre vor der Ermordung Franz Ferdinands. Ich bin sein einziger Sohn. In seinem Testament hatte er mich zum Erben seiner Ideen bestimmt Nicht umsonst hatte er mich auf den Namen Franz Ferdinand taufen lassen. Aber ich war damals jung und töricht, um nicht zu sagen: leichtsinnig. Leichtfertig war ich auf jeden Fall. Ich lebte damals, wie man so sagt: in den Tag hinein. Nein! Dies ist falsch: ich lebte in die Nacht hinein; ich schlief in den Tag hinein.
Eines Morgens aber — es war im April des Jahres 1913 —meldete man mir, dem noch Verschlafenen, erst zwei Stunden vorher Heimgekehrten, den Besuch eines Vetters, eines Herrn Trutta. Im Schlafrock und in Pantoffeln ging ich ins Vorzimmer. Die Fenster waren weit offen. Die morgendlichen Amseln in unserem Garten flöteten fleißig. Die frühe Son-ne durchflutete fröhlich das Zimmer. Unser Dienstmädchen, das ich bislang noch niemals so früh am Morgen gesehen hatte, erschien mir in ihrer blauen Schürze fremd —denn ich kannte sie nur als ein junges Wesen, bestehend aus Blond, Schwarz und Weiß, so etwas wie eine Fahne.
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Ich traf sie wirklich in Wien, erst vier Jahre später.
Am Weihnachtsabend des Jahres 1918 kehrte ich heim. Elf zeigte die Uhr am Westbahnhof. Durch die Mariahilfer Straße ging ich. Ein körniger Regen, mißratener Schnee und kümmerlicher Bruder des Hagels, fiel in schrägen Strichen vom mißgünstigen Himmel. Meine Kappe war nackt, man hatte ihr die Rosette abgerissen. Mein Kragen war nackt, man hatte ihm die Sterne abgerissen. Ich selbst war nackt. Die Steine waren nackt, die Mauern und die Dächer. Nackt waren die spärlichen Laternen. Der körnige Regen prasselte gegen ihr mattes Glas, als würfe der Himmel sandige Kiesel gegen arme, große Glasmurmeln. Die Mäntel der Wachtposten vor den öffentlichen Gebäuden wehten, und die Schöße blähten sich trotz der Nässe. Die aufgepflanzten Bajonette erschienen gar nicht echt, die Gewehre hingen halb schief an den Schultern der Leute. Es war, als wollten sich die Gewehre schlafen legen, müde wie wir, von vier Jahren Schießen. Ich war keineswegs erstaunt, daß mich die Leute nicht grüßten, meine nackte Kappe, mein nackter Blusenkragen verpflichteten niemanden. Ich rebellierte nicht. Es war nur jämmerlich. Es war das Ende. Ich dachte an den alten Traum meines Vaters, den von einer dreifältigen Monarchie, und daß er mich dazu bestimmt hatte, einmal seinen Traum wirklich zu machen. Mein Vater lag begraben auf dem Hietzinger Friedhof, und der Kaiser Franz Joseph, dessen treuer Deserteur er gewesen war, in der Kapuzinergruft. Ich war der Erbe, und der körnige Regen fiel über mich, und ich wanderte dem Hause meines Vaters und meiner Mutter zu. Ich machte einen Umweg. Ich ging an der Kapuzinergruft vorbei. Auch vor ihr ging ein Wachtposten auf und ab. Was hatte er noch zu bewachen? die Sarkophage? das Andenken? die Geschichte? Ich, ein Erbe, ich blieb eine Weile vor der Kirche stehen. Der Posten kümmerte sich nicht um mich. Ich zog die Kappe. Dann ging ich weiter dem väterlichen Hause zu, von einem Haus zum andern. Lebte meine Mutter noch? Ich hatte ihr zweimal von unterwegs meine Ankunft angezeigt.
Ich ging schneller. Lebte meine Mutter noch? Ich stand vor unserm Haus. Ich läutete. Es dauerte lange. Unsere alte Portiersfrau öffnete das Tor. »Frau Fanny!« rief ich. Sie erkannte mich sofort an der Stimme. Die Kerze flackerte, die Hand zitterte. »Man erwartet Sie, wir erwarten Sie, junger Herr. Nächtelang schlafen wir beide nicht, die gnädige Frau oben auch nicht.« – Sie war in der Tat so angezogen, wie ich sie früher nur an Sonntagvormittagen gesehen hatte, niemals abends nach der Sperrstunde. Ich nahm zwei Stufen auf einmal.
Meine Mutter stand neben ihrem alten Lehnstuhl, in ihrem hochgeschlossenen schwarzen Kleid, die silbernen Haare hoch aus der Stirne gekämmt. Rückwärts über den rund gelegten zwei Zöpfen ragte der breite Bogenrand des Kammes, grau wie das Haar. Den Kragen und die engen Ärmel umrandeten die wohlvertrauten, weißen, schmalen Säume. Den alten Stock mit der Silberkrücke hob sie empor, eine Beschwörung, gegen den Himmel hob sie ihn hoch, gleichsam, als wäre ihr Arm nicht lang genug für einen so gewaltigen Dank. Sie rührte sich nicht, sie erwartete mich, und ihr Stillstehen schien mir wie ein Schreiten. Sie beugte sich über mich. Sie küßte mich nicht einmal auf die Stirn. Sie stützte mit zwei Fingern mein Kinn hoch, so daß ich das Gesicht hob, ich sah zum erstenmal, daß sie so viel größer war als ich. Sie blickte mich lange an. Dann geschah etwas Unwahrscheinliches, ja etwas Ich traf sie wirklich in Wien, erst vier Jahre später.
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