REDING, Josef
Der Befund
…..
In der Imbisshalle werden vom Kebab-Kegel hauchdünne Scheiben geschnitten. Die Hände des Mannes mit dem Backenbart sind flink. Sein Messer ist scharf.
Andreas sieht dem behänden Mann zu. Der Mann spürt, dass Andreas ihn beobachtet, und lächelt. Andreas bestellt Mineralwasser. Er nimmt die Flasche und das Glas und setzt sich an einen leeren Tisch.
Nebenan sprechen einige Gäste miteinander, lebhaft und laut. Die fremden Sprachfetzen tun Andreas wohl. Er ist dankbar, dass die Männer mit sich selbst zu tun haben, dass sich niemand um ihn kümmert.
Andreas nimmt den Umschlag jetzt wieder in die Hand. Er ist so entschlossen wie seit Wochen nicht mehr. Er nimmt das Blatt heraus, liest sich im unteren Teil des gedruckten Textes an einer handgeschriebenen Zeile fest: HIV steht da in Großbuchstaben. Dann, klein dahinter, negativ.
Andreas trinkt das Mineralwasser aus der Flasche. Beim ersten Schluck merkt er, wie trocken sein Hals ist. Andreas trinkt hastig weiter. Er trinkt die kleine Flasche leer. Er merkt, wie die Kohlensäure in den Nasenlöchern kribbelt.
Jetzt weiß ich, woran ich bin, sagt Andreas, als er die Flasche absetzt. Er sagt es erst ein paarmal hörbar, dann leise, dann immer lauter. Die Männer am Nachbartisch halten einige Augenblicke inne. Dann reden sie weiter.
…..
Jerry lacht in Harlem
…..
Du kannst von der Freiheitsstatue aus mit der Kamera New York ins Bild nehmen. Das New York, das du kennst. Das Lesebuch-New-York: Empire State Building und Radio City Music Hall, Manhattan und den Broadway.
…..
Jetzt schwenke die Kamera nach links, acht Zentimeter nach links nur. Dann bekommst du Harlem in den Sucher. Harlem ist auch New York. Aber Harlem ist das andere New York. Das schwarze New York. Das New York des Drecks. Das New York der Slums. Das New York der Neger.
…..
Du siehst Harlems 135. Straße. Ein paar verrostete Fords stehen herum. Das Füllstroh einer zerborstenen Apfelsinenkiste ist über den Asphalt verstreut. Drüben, einsam, ein Polizist, wie alle Polizisten in Harlem zu Pferde. Zwei Negerfrauen streiten sich, keifen
…..
Nennt mich nicht Nigger
…..
Hätte ich hier in Zentralafrika nicht erwarte, einen Ne – einen Eingeborenen, der so gut Deutsch spricht, der überhaupt Deutsch spricht.
…..
Sie können ruhig Neger sagen, Monsignore (…). Das ist genauso töricht wie Eingeborener. Ich weiß, das Vokabular der Europäer zur Bezeichnung eines Afrikaners ist schmal. Was soll ich zu Ihnen sagen, Monsignore? Guten Tag, Weißer oder Einheimischer oder Boy?
…..
Als Juanita fort war
Ilse Velbert fühlte sich rundum wohl. Außen und innen. Vor einer Viertelstunde war Juanita gegangen. Ihr Vater war Gastarbeiter beim Städtischen Fuhrpark. Genauer: bei der Müllabfuhr. Und da Ilse gelesen hatte, daß man Weihnachten lieb zueinander sein soll, hatte sie zur Bescherung am Heiligen Abend Juanita eingeladen.
Ilse Velbert hatte mit Geschenken nicht gespart. Vielmehr ihre Eltern nicht, denn die mußten die Geschenke schließlich bezahlen. Juanita hatte bekommen: ein Paar Pelzhandschuhe, einen Füllfederhalter mit eingraviertem Namen, Rollschuhe und eine Tüte Spekulatius, Schokoladebonbons und Pfeffernüsse. Und Juanita hatte sich über die Geschenke gefreut. Man konnte es ihrem Gesicht ansehen. Und beim Nachhause gehen hat Juanita die Pelzhandschuhe gleich angezogen.
Ilse hatte der Klassenkameradin noch lange nachgewinkt. Und dann begann sie zu frieren und hatte die Haustür schnell zugemacht und war zu ihrem eigenen Gabentisch zurückgekehrt: ein Paar Stiefel aus Seehundfell, ein Mantel mit Pelzbesatz, rubinrote Ohrringe, ein Buch über die Tierwelt in der Serengeti und ein Heimkino mit zehn Trickfilmen.
…..