SCHNEIDER, Peter
Der Mauerspringer
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Das Wetter wird in Berlin in der Regel von westlichen Winden beherrscht. Ein Reisender, der sich im Flugzeug nähert, hat aus diesem Grund ausgiebig Zeit, die Stadt von oben zu betrachten. Um gegen den Wind landen zu können, muss das aus dem Westen einfliegende Flugzeug die Stadt und das sie teilende Bauwerk dreimal überqueren: zunächst in östlicher Richtung fliegend, erreicht das Flugzeug Westberliner Luftraum, überfliegt darauf in einer weiten Linkskurve den östlichen Teil der Stadt und überwindet dann, jetzt aus dem Osten kommend, das raumaufteilende Bauwerk in Richtung Landebahn Tegel ein drittes Mal. Aus der Luft betrachtet, bietet die Stadt einen durchaus einheitlichen Anblick. Nichts bringt den Ortskundigen auf die Idee, dass er sich einer Gegend nähert, in der zwei politische Kontinente aneinanderstossen.
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….. der Eindruck, zu plötzlich auf einem anderen Planeten gelandet zu sein. Das Leben dort war nicht nur der äusseren Organisation nach verschieden; es gehorchte bis in die Reflexe hinein einem anderen Gesetz, das durch den Hinweis auf den Unterschied der Gesellschaftssysteme und ihres Entwicklungstempos zu rasch benannt war. In New York würde ich mich besser zurechtfinden als in der halben Stadt, die fünf Kilometer Luftlinie von meiner Wohnung entfernt war.
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Von oben betrachtet Sobald der Schatten des Flugzeugs entschwunden ist, muss sich auch Schneiders Erzähler mit der Realität auf dem Boden auseinandersetzen. Gegen alle politischen und ideologischen Vorurteile versucht er zwar „die Haltung eines Fremden einzunehmen, der sich auf nichts als auf seine Wahrnehmung verlässt.
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….. die Geschichte eines Mannes, der sein Ich verliert und anfängt, niemand zu werden. Aus einer Verkettung von Umständen, die mir noch unbekannt sind, wird er zum Grenzgänger zwischen beiden deutschen Staaten. Zunächst ohne Absicht beginnt er, einen Vergleich anzustellen, und wird dabei unmerklich von einer Krankheit erfasst, vor der die Bewohner mit festem Wohnsitz durch die Mauer geschützt sind. Am eigenen Leib und wie im Zeitraffertempo erlebt er den Teilungsprozess, bis er glaubt, nachträglich eine Entscheidung treffen zu müssen, die ihm bisher durch Geburt und Sozialisation abgenommen war. Je öfter er aber zwischen beiden Hälften der Stadt hin und her geht, desto absurder erscheint ihm die Wahl. Misstrauisch geworden gegen die hastig ergriffene Identität, die ihm die beiden Staaten anbieten, findet er seinen Ort nur noch auf der Grenze.
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