SPENGLER, Oswald



Der Untergang des Abendlandes

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Religion nennen wir das Wachsein eines Lebewesens in den Augenblicken, wo es das Dasein überwältigt, beherrscht, verneint, selbst vernichtet. Das rassehafte Leben und der Takt seiner Triebe werden klein und dürftig vor dem Blick in die ausgedehnte, gespannte und lichterfüllte Welt; die Zeit weicht dem Raume. Die pflanzenhafte Sehnsucht nach Vollendung erlischt und das tierhafte Urgefühl der Angst vor dem Vollendetsein, dem Richtungslosen, dem Tode bricht hervor. Nicht Hassen und Lieben, sondern Fürchten und Lieben sind die Grundgefühle der Religion. Haß und Furcht unterscheiden sich wie Zeit und Raum, wie Blut und Auge, wie Takt und Spannung, wie Heldenhaftes und Heiliges. Aber ebenso verschieden ist Liebe im rassehaften und Liebe im religiösen Sinne.

Alle Religion ist dem Lichte verwandt. Das Ausgedehnte wird auch religiös als Augenwelt von dem Ich als Lichtmitte aus erfaßt. Gehör und Getast werden dem Gesehenen eingeordnet und das Unsichtbare, dessen Wirkungen man sinnlich verspürt, wird zum Inbegriff des Dämonischen. Alles, was wir mit den Worten Gottheit, Offenbarung, Erlösung, Fügung bezeichnen, ist irgendwie ein Element der belichteten Wirklichkeit. Der Tod ist für den Menschen etwas, das er sieht und sehend erkennt, und im Hinblick auf den Tod ist die Geburt das andre Geheimnis: beide begrenzen für das Auge das gefühlte Kosmische als Leben eines Leibes im Lichtraum.

Es gibt eine tiefe, auch den Tieren bekannte Furcht vor dem mikrokosmischen Freisein im Räume, vor dem Räume selbst und seinen Mächten, vor dem Tode, und eine andere Furcht für das kosmische Strömen des Daseins, das Leben, die gerichtete Zeit. Die erste weckt eine dunkle Ahnung, daß die Freiheit im Ausgedehnten eine neue und tiefere Art von Abhängigkeit als die pflanzenhafte ist. Sie läßt das Einzelwesen im Gefühl seiner Schwäche die Nähe und Verbindung mit anderen suchen. Die Angst führt zum Sprechen und eine Art von Sprache ist jede Religion. Aus der Angst vor dem Räume erheben sich die Numina der Welt als Natur und die Götterkulte. Aus der Angst für die Zeit entstehen die Numina des Lebens, des Geschlechtes, des Staates mit ihrem Mittelpunkt im Ahnenkult. Das ist der Unterschied von tabu und totem, denn auch das Totemistische erscheint stets in religiöser Form, aus einer heiligen Scheu vor dem, was dem Verstehen selbst entzogen und ewig fremd ist.

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