ENZENSBERGER, Hans Magnus



Eine zarte Regung


Mein Großvater,

dieser Glückliche,

verstand wenig vom Leben.

Er keuchte vor Appetit,

trug flotte Hüte

und glaubte haufig,

er wäre im Recht.

Mit siebenundneunzig

sah er, ungläubig

und zum erstenmal,

eine Klinik von innen.

“Schade”, murmelte er,

“h ätte ich nur gewusst,

wie reizend sie sind,

die jungen Schwestern

an meinem Bett,

wie sanft ihre Hände,

früher, viel früher

wäre ich krank geworden”,

verzog die Mundwinkel,

wandte die Augen

zur Klingel und starb.



Angewohnheiten


Wie oft mußte Plato sich schneuzen,

der heilige Thomas von Aquin

seine Schuhe ausziehen,

Einstein sich die Zähne putzen,

Kafka das Licht ein- und ausschalten,

bevor sie zu dem kamen,

was ihnen aufgetragen war?


Ganze Wochen, aufs ganze gesehen,

bringen wir damit zu,

unsere Hemden auf- und zuzuknöpfen,

unsere Brillen zu suchen

oder das, was wir zu uns nahmen,

wieder auszuscheiden.


Wie flüchtig sind unsere Meinungen

und unsere Werke, verglichen mit dem,

was wir miteinander teilen:

Kochen, Waschen, Treppensteigen –

unscheinbare Wiederholungen,

die friedlich sind, gewöhnlich

und unentbehrlicher als jedes chef d’œuvre.


Die Verschwundenen

Für Nelly Sachs


Nicht die Erde hat sie verschluckt. War es die Luft?

Wie der Sand sind sie zahlreich, doch nicht zu Sand

sind sie geworden, sondern zu nichte. In Scharen

sind sie vergessen. Häufig und Hand in Hand,

…..
wie die Minuten. Mehr als wir,

doch ohne Andenken. Nicht verzeichnet,

nicht abzulesen im Staub, sondern verschwunden

sind ihre Namen, Löffel und Sohlen.

…..
Sie reuen uns nicht. Es kann sich niemand

auf sie besinnen: Sind sie geboren,

geflohen, gestorben? Vermißt

sind sie nicht worden. Lückenlos

ist die Welt, doch zusammengehalten

von dem was sie nicht behaust,

von den Verschwundenen. Sie sind überall.

…..
Ohne die Abwesenden wäre nichts da.

Ohne die Flüchtigen wäre nichts fest.

Ohne die Vergessenen nichts gewiß.

…..
Die Verschwundenen sind gerecht.

So verschallen wir auch.



ins lesebuch für die oberstufe

lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne:

sie sind genauer. roll die seekarten auf,

eh es zu spät ist. sei wachsam, sing nicht.

der tag kommt, wo sie wieder listen ans tor

schlagen und malen den neinsagern auf die brust

zinken. lern unerkannt gehn, lern mehr als ich:

das viertel wechseln, den paß, das gesicht.

versteh dich auf den kleinen verrat,

die tägliche schmutzige rettung.

nützlich sind die enzykliken zum feueranzünden,

die manifeste: butter einzuwickeln und salz

für die wehrlosen. wut und geduld sind nötig,

in die lungen der macht zu blasen

den feinen tödlichen staub, gemahlen

von denen, die viel gelernt haben,

die genau sind, von dir.



Die Geschichte der Wolken


Gegen Stress, Kummer, Eifersucht, Depression

empfiehlt sich die Betrachtung der Wolken.

Mit ihren rotgoldenen Abendrändern

übertreffen sie Patinir und Tiepolo.

Die flüchtigsten aller Meisterwerke,

schwerer zu zählen als jede Rentierherde,

enden in keinem Museum.

Wolkenarchäologie - eine Wissenschaft

für die Engel. Ja, ohne die Wolken

stürbe alles, was lebt. Erfinder sind sie:

Kein Feuer ohne sie, kein elektrisches Licht.

Ja, es empfiehlt sich, bei Müdigkeit,

Wut und Verzweiflung, die Augen

gen Himmel zu wenden.



Andenken an den prägnanten Moment


Der Morgen der Reue, die dir in die Glieder fährt wie ein Hexenschu;

der Tag, an dem du dich lächerlich gemacht hast für ewige Zeiten;

der Abend, wo du am Bodem liegst und das Blut läuft dir aus der Nase;

die Stunde in der du entdeckst, da du dich vierzehn Jahre neun Monate und zwei Wochen lang getäuscht hast;

die Minute, da dich deine eigene Tochter ansieht wie eine Fremde;

der Moment, in dem du die Spitze des Messers im Rücken zu spüren glaubst;

der Augenblick, in dem du den Abschiedsbrief findest auf dem Küchentisch;

die Zehntelsekunde, wo die Lawine unter deinen Füen sich zu lösen beginnt;

und davor und danach die unvorstellbar vielen Augenblicke der Sorglosigkeit.


Der Neue Mensch


Dieser neue Mensch

sieht fremd aus.


Angenehm,

diese Unähnlichkeit.


“Ganz der Vater”.

Hoffentlich nicht.


Er arbeitet schwer,

bringt Geräusche hervor.


Wir erraten nicht,

was er will.


Atmet, verdaut,

kriecht, jammert.


Zögernd bemerkt er

die Zweifaltigkeit.


Klettert an Wörtern

hinauf, probiert


Wippen, Schaukeln,

Verwegenheit, Angst.


Eines Tages, schlauer

als wir, verblüfft er uns.


Dann, während wir

langsam sterben,


wird er uns, unaufhaltsam,

immer ähnlicher.