ELIAS, Norbert
Über den Prozess der Zivilisation
Ambivalenz
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Es war in der Tat nicht allein die monopolistische Verfügung des Fürsten über die militärischen Machtmittel, die die andern Schichten seines Herrschaftsgebiets und besonders die keineswegs machtlosen Spitzenschichten in Schach hielt, sondern auf Grund einer eigentümlichen Verflechtungskonstellation war die Angewiesenheit gerade dieser Schichten auf einen obersten Koordinator und Regulator des spannungsreichen Gefüges in dieser Phase so gross, dass sie wohl oder übel den Kampf um Kontrolle und um Mitbestimmung bei den obersten Entscheidungen für längere Zeit aufgeben mussten.
Man kann diese eigentümliche Verflechtungskonstellation nicht verstehen ohne eine Besonderheit ins Auge zu fassen, die ebenfalls mit der zunehmenden Funktionsteilung in der Gesellschaft immer ausgeprägter hervortritt: Das ist ihre offene oder latent Ambivalenz. In den Beziehungen einzelner Menschen sowohl, wie in denen verschiedener Funktionschichten zeigt sich eine spezifische Zwiespältigkeit oder gar eine Vielspältigkeit der Interessen umso stärker, je weiter und reicher gegliedert das Netz der Interdependenzen wird, in das eine einzelne, soziale Existenz oder eine ganze Funktionsklasse verflochten ist. Hier sind alle Menschen, alle Gruppen, Stände oder Klassen, in irgendeiner Form aufeinander angewiesen; sie sind potentielle Freunde, Verbündete oder Aktionspartner; und sie sind zugleich potentielle Interessengegner, Konkurrenten oder Feinde. In naturalwirtschaftlichen Gesellschaften gibt es gelegentlich ganz unzweideutig negative Beziehungen, reine und darum ungemilderte-Feindschaft. Wenn wandernde Nomaden in ein bereits besiedeltes Gebiet einbrechen, dann mischt sich in die Beziehungen zwischen ihnen und den Siedlern dieses Gebietes unter Umständen keine Spur von wechselseitiger, funktioneller Angewiesenheit.
Zwischen diesen Gruppen besteht dann in der Tat eine reine Feindschaft auf Tod und Leben. Und weit grösser ist in solchen einfacher gegliederten Gesellschaften auch die Chance zu einem Verhältnis klarer und unkomplizierter, wechselseitiger Angewiesenheit, zu ungemischten Freundschaften, Bündnissen, Liebes-oder Dienstbeziehungen. In der eigentümlichen Schwarz-weiss-Zeichnung vieler, mittelalterlicher Bücher, die oft nichts anderes zu kennen scheinen , als gute Freunde oder Bösewichte, kommt die grössere Bereitschaft der mittelalterlichen Wirklichkeit zu Beziehungen dieser Art deutlich zum Ausdruck. Allerdings gibt es in dieser Wirklichkeit entsprechend der grösseren, funktionellen Ungebundenheit vieler Menschen häufig auch ein rasches Umspringen von einem Extrem ins andere, ein “Nacheinander”, einen leichten Wechsel von entschiedener Freundschaft zu entschiedener Feindschaft.
Wenn die gesellschaftlichen Funktionen und Interessen der Menschen immer weitverzweigter und widerspruchsvoller werden, begegnet man in ihrem Verhalten und ihrem Empfinden immer häufiger einer eigentümlichen Spaltung, einem “Zugleich” von positiven und negativen Elementen, einer Mischung von relativ gedämpfter Zuneigung und gedämpfter Abneigung in verschiedenen Proportionenund Schattierungen. Die Möglichkeiten zu einer reinen und in keiner Weise ambivalenten Feindschaft werden seltener; und immer spürbarer bedroht jede Aktion gegen einen Gegner zugleich auch in irgendeiner Form die soziale Existenz dessen, der sie unternimmt; sie stört zugleich das ganze Triebwerk der funktionsteiligen Handlungsketten, dessen Teil die bestehende, soziale Existenz beider ist.
Es würde hier zu weit führen, auf diese fundamentale Vielspältigkeit der Interessen, auf ihre Konsequenzen für das politische Spiel oder den psychischen Habitus und auf ihre Soziogenese im Zusammenhang mit der fortschreitenden Funktionsteilung genauer einzugehen. Aber schon das wenige, was in diesem Zusammenhang darüber gesagt worden kann, lässt erkennen, dass sie eine der folgenreichsten Struktureigentümlichkeiten der höher differenzierten Gesellschaften ist und eine der wichtigsten Prägeapparaturen für das zivilisierte Verhalten.
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