BECKER, Jürgen
Reiseland
Westfälische Hügel, der Breisgau dann Dresden ... keine Woche
für Ansichtskarten und ausgeruhte Residenzen; Blätterfall, tief
hängender Himmel zwischen Elbe und Rhein.
Termingeschiebe, kein Abschied für länger; was suchst du
im Süden? Ich dachte im Speisewagen an meinen Vater
und wie er reiste in den Dreißiger Jahren ... Excelsior,
Majestic. Der Junge am Fenster versteht nicht, was
die Erwachsenen sagen: Marienborn, damals die Zone -
Zwischen Zaunresten leeres Gelände; zwei Krähen flattern
um einen stehengebliebenen Turm. Die Hand
in der Herzgegend, der Griff nach dem Paß; es gibt
Gewohnheiten, die der Zug mitbefördert. Sorglose
Reisende lassen die Zeitungen liegen.
Schau hinaus. Die Nähe der Landschaft, die du
wiedergewinnen kannst. Eine Chance, die im Stundentakt
sich wiederholt. Hongkong geht langsam verloren.
[Sommerregen. Schwarzer Abend. An den Rand]
Sommerregen. Schwarzer Abend. An den Rand
einer Todesmeldung gekritzelt die verfügbaren Daten,
die das Interview in Gang setzen, die Erinnerung
an entrückte Begegnungen, von denen
wir uns mehr Zukunft versprochen hatten.
Der neue New Yorker bleibt offen liegen.
Was heißt Zukunft, wenn sich das letzte Gespräch
per Bandschleife endlos wiederholen läßt
und ein Nachruf zehn Jahre liegt im Archiv.
Trockener Sommer. Der Abend ist hell.
Eine Reise ist vorzubereiten. Man muß
durch eine Nebelfront, deren Weiß so weiß
wie chinesische Trauer ist. Bitte keine Zitate.
Thema vom Tisch. Die Gerstenfelder sind leer,
und man liest, kompliziert sind die Städte.
Wiedersehen nach längerer Zeit
In diesem Dorf, diesem Vorort geht es
gut weiter. Die zweite Anbindung an die Autobahn
hat die Hauptstraße entlastet; Platz fürd
ie Mofas der Kinder. Der letzte Bauer
verkauft nacheinander seine Parzellen;
über den Quadratmeterpreis wird nur gemunkelt;
auf der Bachaue jetzt ein Sportpark
mit Kegelbahn, Tennishalle und Discothek.
Der Pfarrer kämpft gegen den Unternehmer,
der sein Mietshaus genau auf die Grenze
zum Kirchgarten gesetzt hat; wie es passieren
konnte, versteht keiner, der nicht
die Beziehungen des Unternehmers kennt.
Einige leerstehende Häuschen, vorgesehen
zum Abbruch, mit den verwilderten Gärten
drumherum das Gelände für den dritten
Selbstbedienungsmarkt. In der Luft immer
das Geräusch der Autobahn; mit ihrer
haushohen Trasse umgibt sie den Ort
wie ein Wall, wie ein Damm
gegen Feinde und Katastrophen.
Immer noch, von morgens bis abends, sitzen
hinter der großen Frontscheibe des Altenheims
alte Frauen. Einige schlafen; eine schüttelt
den Kopf; einige warten auf Sonntag und Besuch;
eine winkt, auch wenn niemand vorbeikommt.