LACHMANN, Hedwig



Umsonst gelebt


Das Zimmer hat nur spärliches Gerät.

Im Herde glimmert ein verkohltes Scheit.

Gleichgiltige Lippen murmeln ein Gebet.

Es stirbt ein Mann. Vom Turme schlägt die Zeit.


Er hat nicht Weib, nicht Kind. Kein Schluchzen tönt.

Er hat geschafft, gelitten und gestrebt.

Für wen? Die Stunde löscht es aus. Er stöhnt.

Ein Schatten weht. Umsonst, umsonst gelebt!



Auswanderer


Sie nehmen ihre Kinder an der Hand

Und ziehen fort; es duldet sie kein Land.


Grenzwächter sind auf ihren Weg gestellt,

Wie wenn ein Hund am Tor die Wache hält.


Sind überm Meer noch ein paar Ackerbreit,

Worauf nicht Gras noch Futterkorn gedeiht?


Sanddünen, die kein Sämann noch bewarf,

Dass dort ein Bettelvolk verhungern darf?


Der Bauch der Schiffe nimmt sie endlich auf,

Zum Ballast hingeworfen, Hauf um Hauf.


Und setzt sie an den fernen Küsten aus

Wie Findlingskinder vor ein fremdes Haus.


Empörung


Es freuen sich die Schergen und die Schächer,

Dass man die Unschuld peinigt und verhöhnt,

Gebunden steht das Opfer, dran ein frecher

Tyrannendünkel seiner Willkür frönt.


So muss zu Fluch und ewigem Verderben

Der Schwache dulden die metallne Faust,

Die, ihm ihr Schandmal in das Fleisch zu kerben,

Auf den gebeugten Nacken niedersaust.


Zu seinem mörderischen Handwerk rüstet

Sich auf dem Markte der gedungne Knecht,

Der Menschenwohnungen zu Staub verwüstet,

Vom Boden tilgt ein wehrloses Geschlecht.


Wie von bekränzten Stieren, an Altären

Dem frommen Opfertod geweiht, raucht warm

Das Menschenblut zu einer Gottheit Ehren

Und keiner fällt den Henkern in den Arm.


Einst tönte eine Botschaft in die Lande,

Die in Erbarmen wandelte die Gier

Und schlug um alle Menschen Liebesbande:

Was ihr den Ärmsten tut, das tut ihr mir!


Wo wächst die Kraft, dass sie die Flammen schüre,

Den Mordgeist wie ein Spukgebild verscheuch′,

Mit Allgewalt an alle Herzen rühre:

Was diesen hier geschieht, das tut man euch!


Wann schwillt zu solch zerstörerischer Welle

Getretner Menschengeist, dass er sich bäumt,

Wild überflutet seine eigne Schwelle

Und dann gelassen wieder weiterschäumt?



Unterwegs


Ich wandre in der großen Stadt. Ein trüber

Herbstnebelschleier flattert um die Zinnen,

Das Tagwerk schwirrt und braust vor meinen Sinnen,

Und tausend Menschen gehn an mir vorüber.


Ich kenn sie nicht. Wer sind die Vielen? Tragen

Sie in der Brust ein Los wie meins? Und blutet

Ihr Herz vielleicht, von mir so unvermutet,

Als ihnen fremd ist meines Herzens Schlagen?


Der Nebel tropft. Wir alle wandern, wandern.

Von dir zu mir erhellt kein Blitz die Tiefen.

Und wenn wir uns das Wort entgegenriefen-

Es stirbt im Wind und keiner weiß vom andern.



Spaziergang


Die Sonne steht schon tief. Wir scheiden bald.

Leis sprüht der Regen. Horch! Die Meise klagt.

Wie dunkel und verschwiegen ist der Wald!

Du hast das tiefste Wort mir nicht gesagt.-


Zwei helle Birken an der Waldeswand.

Ein Spinngewebe zwischen beiden, sieh!

Wie ist es zart von Stamm zu Stamm gespannt!

Was uns zu tiefst bewegt, wir sagen′s nie.-


Fühlst du den Hauch? Ein Zittern auf dem Grund

Des Sees. Die glatte Oberfläche bebt.

Wie Schatten weht es auch um unsern Mund-

Wir haben wahrhaft nur im Traum gelebt.-



Melancholia


Das Auge, das sich in dem Graus verliert,

Der langsam um den Erdball rast,

Wird vor Entsetzen irre und gefriert,

Wie wenn im Tod es brechend sich verglast.


Weh ohne Maß, ins unbegrenzte All

Wie ein empörtes Meer hinausgeschnellt,

Wo es mit millionenfachem Prall

An starrer Luftschicht wesenlos zerschellt!


Das ist der Erbfluch unausrottbar zäh,

Der das Geschlecht mit seinem Bann umfing,

Als in verworrnem Urtrieb dumpf und jäh

Zum ersten Mal sich Blut am Blut verging.


Aus euren Träumen wuchs der wilde Geist,

Von Höllenlicht umlodert und umqualmt,

Den mit verstörten Sinnen ihr umkreist,

Und den ihr Gott nennt, weil er euch zermalmt.


Fühllos und ohne Ohr für euer Flehn,

Tut er mit Tod und Grauen euch Bescheid

Und lässt er ohne Ende blind geschehn,

Dass ihr die Opferer und Opfer seid.