HERMANN-NEISSE, Max
Litanei der Bitternis
Bitter ist es, das Brot der Fremde zu essen,
bittrer noch das Gnadenbrot,
und dem Nächsten eine Last zu sein.
Meine bessren Jahre kann ich nicht vergessen;
doch nun sind sie tot,
und getrunken ist der letzte Wein.
Ringsum ist eine ganze Welt verfallen,
alles treibt dem Abgrund zu,
nur noch Schwereres steht uns bevor,
denn wir treiben hilflos mit den Trümmern allen;
immer denkst auch du
an das Glück, das dein Gemüt verlor.
Selbst die große Stadt muss sich verstellen;
dunkel sein wie Dörfer einst,
die verwunschnen, die man fremd durchfuhr,
seltsam klingt wie damals nachts der Hunde Bellen,
dass du trostlos weinst,
angeweht vom Spuk der Heimatflur.
Bitter ist es, vor jedem neuen Tage
Angst zu haben, niemehr frei
von geheimen Sorgen, Reue, Gram,
furchtgeplagt bei jedem neuen Glockenschlage,
dass er letzter sei,
eh man recht vom Leben Abschied nahm.
Ungemilderte Bitternis im Herzen.
bin ich längst mir selbst zur Last
zwischen Morgenrot und Abendrot.
Bitter ist es, alles Glück sich zu verscherzen,
ungebetner Gast
bittrer, und das Bitterste: der Tod.
Trübe Ahnung
Verlaßner werde ich mit jedem Jahr,
und nun verlor ich auch mein bestes Lied. –
Ich saß bei einem Kognak an der Bar
so düster, daß mich jedes Mädchen mied.
Dann ging ich durch die Stadt. Die Nacht war mild.
Es war, als ob mein Vater mit mir sprach.
Jetzt hock ich trostlos unter deinem Bild
und traure dem versäumten Leben nach.
Das war ein Fest … ein Kleid im Wind … ein Wink…
und immer eine Schwermut, die uns schied,
zuletzt nur wieder dies: "Vergiß und trink!"
Und nun verlor ich auch mein bestes Lied.
War doch mir Liebeslust noch prophezeit,
und daß die Schicksalswege sich erneun –
zu spät erblühte diese Glücklichkeit
und könnte meinen Herbst nicht mehr erfreun.
Denn herbstlich geh ich mitten durch den Mai,
der als ein Spuk an mir vorüberzieht,
als wisse er, daß dies der letzte sei.
Verloren ist mein Leben und mein Lied.