FAUSER, Jörg
Der Zwang zur Prosa
Der Zwang zur Prosa, das ist der
Zwang zur Liebe, zum Rausch, zur
Metzelei, der rasende
Berserker greift zum Schlachtschwert
und zerlegt die Cafés von Angers,
es ist der Zwang zur Prosa,
der ihn berauscht, der den Poeten
mit spitzen Fingern das Pernodglas leeren
läßt und den Schlüpfer der Hure
an der Leine im Hinterhof streichelt,
es ist die Liebe zum Lamm,
die den Hirten niederbeugt in die Lache
der Erde, er trinkt das Blut, er badet
in Flüssen jenseits aller
Vernunft, jenseits der Bürger
und mäßigen Arbeiter, in seinen
Armen wiegt er das Kind
der heiligen Jeanne, er ist schutzlos,
ein Idiot mit Musik in den Muskeln,
er trinkt ihr Blut, er stirbt
den Tod der Ratte, unter Hausbesorgern
beißt er ins Gras, ein Mann
wie ein Rausch, ohne Zukunft, Berserker
ohne Bar ohne Frau ohne Schwert,
an der Loire ein Mann, er badet
in Bildern, in Prosa, in Wein,
er badet im Land, in der Sonne, im Blut
und tut alles unter der Fahne
des Winters, er weiß, es gibt
Liebe nicht so, Lämmer nicht so noch Heilige,
er sonnt sich in Schnäpsen, in Frauen,
in Prosa, in sanfter, vernünftiger
Metzelei…
Metzgerei
(oder: A man can be destroyed and defeated)
Heut abend in der Metzgerei
stand ein alter Mann vor mir
fadenscheiniger Wintermantel
eine Warze im Genick
schwärzlicher Rand am Hemdkragen
ausgetretene Halbschuhe
Reste von Ohropax in den Ohren
verknorpelte Hände
an eine poröse Plastiktüte geklammert
und als er an der Reihe war
bestellte er mit leiser Stimme
50 Gramm Blutwurst
50 Gramm Sülze
und eine Flasche Vollbier
zahlte zögernd aus einer abgewetzten Börse
und ging rasch und ohne Gruß
in seinen Winter
und mir wurde plötzlich klar
wie sie alt
und besiegt und vernichtet sind
meine Väter
Auch du
Eines Tages wirst auch du
auf diesem Eckplatz sitzen,
grauer Haarfilz, grauer Mantel,
grau dein Blick;
Gasthaus “Zum Garaus”,
Durchgangstrasse, Gewimmel,
Wohnblöcke, Ordnungspatrouillen,
Man lässt dich in Ruh;
noch ein Aufbau draussen,
noch ein Raketendonner,
ein Rosenmund, Schmutz
oder Schnee, dir gleich;
du löffelst deinen Teil,
stippst Brot, schlürfst
Bier, sehr schal, Rausch
und Mythe längst passé;
das Radio bringt die
neuen Lieder, auch gut,
du zählst die Zigaretten,
drei noch, zögerst;
dann kommt die Kellnerin,
sieht die Flecken, das
leere Glas: “Hat’s geschmeckt?”
Trotzki, Goethe und das Glück
KREUZBERG
Die Trödler räumen die Nachlässe aus
Es riecht nach Kebab, Schnaps und Tod
Und jeder wacht morgens doch lieber auf
Und kämpft um das tägliche Brot
Im Sommer hocken sie vor den Häusern
Und warten, daß etwas geschieht
Menschen, die schon lang gewartet haben
Auf etwas, das uns allen blüht
Kreuzberg liegt im Westen von Berlin
Berlin liegt im Osten von Babylon
Es steht auf allen Mauern geschrieben:
Was andre kriegen, das war hier schon
Hier bleibt das Leben, was es immer war
Es hat ein vertrautes Gesicht
Die Toten loben die Dunkelheit
Die Lebenden brauchen mehr Licht
In tausend Kneipen dröhnt der alte Beat
Die Hunde kriegen auch ihr Bier
Dann wanken sie zusammen durch die Nacht
Mann, Frau, Vergangenheit und Tier
Kreuzberg liegt im Westen von Berlin
liegt im Osten von Babylon
Es steht auf allen Mauern geschrieben:
Was andre kriegen, das war hier schon
Zu den Fragen der Zeit
Mir geht’s wie euch, zu den Fragen
der Zeit fällt mir auch nur mehr Unsinn ein,
aber ich hoffe, es gibt in der Leipziger Straße,
in Frankfurt, an der Bockenheimer Warte,
noch die Imbissstube, wo ich oft
mit meinen Freunden, den Nachtwächtern
und Schlafwandlern hockte und über Bier
und Fritten die Frage erörterte,
ob Durutti den tödlichen Schuss nicht
doch in den Rücken gekriegt hat, und so viel
ich noch weiß, wurden wir uns nie
einig, und vielleicht spielt es auch
wirklich keine Rolle mehr,
aber da gab es immer ein paar
bediente Mädchen, man musste nur
aufpassen, dass man keinem von den harten
Jungs mit dem weichen Leder in die Quere
kam, aber sonst war da oft eine gute
Stimmung, viel Bier, viel Gelächter,
und noch spät nachts eine saftige
Wurst und immer die neusten Platten
in der Box und um die Ecke die neuste
Basisarbeit der Studenten, besetzte Häuser,
in denen man manchmal unsäglich fror
aber fast nie allein im Bett lag,
und wenn man morgens um drei noch
Hunger hatte, und wie oft hatten wir den,
gab es genug Eierautomaten in der Gegend
die man knacken konnte, einfach
mit dem Stein drauf und die Eier raus
und gerannt, und dann wieder die seltsam
friedlichen Stunden am Wasserhäuschen, wenn man
glaubte, das Leben läuft rückwärts, und die Welt
wie eine Flocke Eigelb war, so leicht,
so sanft, mit dem grünen Laub und den
Mädchen, die man für ihr Lächeln liebte,
und die Fragen der Zeit so klar
wie der Schluck Wasser für einen durstigen
Freund …
Samstag im Siechenheim
Jeden Samstag mittag passierte dasselbe:
der alte Tom Bradley, ungefähr 85, ehemaliger
Schmied und Mittelstürmer beim FC Watford,
ein Brocken von Kerl und noch lang nicht am Ende,
schob sich in seiner Falle hoch wie ’n Eisberg aus der See,
schmiß seinen Teller Grütze in die Ecke,
Kissen hinterher, rüttelte an dem Eisengitter
das Harvey und ich an seinem Bett befestigen mußten,
und brüllte:
Laßt mich raus, Jungs! Laßt mich aufs Feld, ihr
Hurenböcke!
Es war Punkt halb vier und im Stadion pfiff der Schiedsrichter
das Spiel an und Tom Bradley, Mittelstürmer
der Bezirksmeistermannschaft von 1907, mußte raus
um sein Tor zu machen,
und der ganze Saal im Siechenheim, dreißig Mann,
die Depperten und Ausgepowerten,
die Maroden und unheilbaren Fälle von Delirium tremens
und Krebs und Zucker und Schlagfluß und Wahnsinn,
die Pferdenarren die keine Wette mehr machten
und die Säufer die kein Glas mehr kippten
und die Arbeitslosen die keine Arbeit mehr brauchten,
die Toten, die noch zehn Jahre krepieren würden
und die Lebenden die ihren letzten Schnaufer machten,
alle feuerten Tom Bradley an:
Los, Tom, gib ihnen Saures! Gibs den Waschlappen!
Ran an den Ball! Schaff dich! Go go go!
Der ganze Saal tobte jeden Samstag halb vier,
Watford verlor todsicher und wir waren schuld,
der Nigger-Arzt und Harvey, das Oberpfleger-Arschloch
und ich, obwohl ich ja kein Limey war und schon deshalb
nichts von Fußball verstand, und wir mußten das Gitter
abschrauben und Tom seinen Bademantel überziehn und
ihn ins Bad verfrachten, bis die Jungs ihn vergaßen,
während er in der Wanne grunzte und ich seine Schrunden
schrubbte und er mit seinem gichtigen Pimmel spielte
als ob er ihn das erste Mal sehn würde,
und nach der Schicht nach Hause, die Stones hatten einen neuen Hit
rausgebracht, »Under my thumb«, zum Abendessen gabs
Hammelbraten mit Bohnen und Stellas Alter
saß mit vergrätztem Gesicht in der Küche,
»was ’n los« –
»die Kaffer ham schon wieder verloren« –
shit, ich packte Stella und machte, daß ich da rauskam.
Berlin, Paris, New York
Ich habe grosse Städte gesehen
und habe die grossen Städte immer geliebt,
ihre Frauen, ihre Bars, ihre
Dämmerungen vor dem Gebrüll
der Maschinen und dem Sturm
auf die Bastille
Berlin, Paris, New York,
eine Straßenecke in Schöneberg
erregt mich tiefer
als der Schnee
auf dem Mont Blanc
oder die Wälder
im Untertaunus,
ich habe die Schönheit gesehen
von grossen Städten, den Glanz
ihrer Avenuen, das Elend
der Massen und die Vernichtung
von Einzeln,
ich habe die Grossen Städte geliebt
und ich liebe sie auch
in ihrem Verfall,
es sind nicht die grossen Städte,
die die Menschen zerstören,
sondern die Gesetze,
die das Menschliche nicht formen,
sondern ersticken,
ich wurde von den großen Städten geformt,
was ich sah, was ich litt, was ich wurde
verdanke ich einer Mutter aus Stein,
der großen Stadt,
und morgen, wenn meine Zeit vorbei ist,
wird es die große Stadt sein
die mich begräbt.
Der Anfang
Der Anfang kommt, wenn du wieder allein bist
Die Häuser sind dann dunkler als Höhlen
Und die Straße ist länger als das Leben
Und die Stadt ist größer als die Welt
Der Anfang ist eine Rose auf dem Pflaster
Der Anfang ist der Nebel überm Asphalt
Der Anfang der Liebe ist das Wort ich
Der Anfang der Liebe ist Angst
Der Anfang ist ein rostiges Messer
Der Anfang ist eine offene Wunde
Der Anfang ist eine Wölfin und wenn du kein Wolf bist
Dann ist die Stunde des Anfangs schon die Stunde des
Endes
Der Anfang kommt, wenn du wieder allein bist
Deine Angst ist dein zweiter Schatten
Deine Liebe ist dein zweites Leben
Und die Nacht ist plötzlich weiter als die Welt
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Staub wächst nach,
durch die offenen Fenster
wirft der Wind ein paar Sterne,
und der Mond leuchtet wie von Sinnen
durch das Flachszelt
des herbstlichen Himmels.
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Liebesgedicht
Als wir uns liebten,
liebten wir uns selbst nicht
Als wir uns den Krieg erklärten,
gaben wir uns schon verloren.
Als wir geschlagen waren,
bemühten wir die Geschichte
Als wir allein waren,
übertönten wir sie mit Musik.
Als wir uns trennten,
blieben wir am gleichen Ort.
So lagen wir uns bald wieder in den Armen
und nannten es ein Liebesgedicht,
aber kein Liebesgedicht erklärt uns
die Angst vor der Liebe,
und warum der Himmel so blau war
als wir uns trafen,
und warum er immer noch blau sein wird
wenn wir sterben werden,
du für dich,
ich für mich.
Von der Unberührbarkeit der Erde
Für Mami - 24. 12. 64
Ich weiß die Erde ist unberührbar
in ihrer einfachsten Blume.
Ich weiß es wird mir nie gelingen
ihre Schönheit auszusprechen, und ohne ihre Täler und
Gärten
auf allen Wegen begangen zu haben
werde ich sterben.
Blätter und Schatten
verlassen die Erde nie,
das Wasser in den Flüssen und die Steine der Berge
überleben auch mich.
Ich ging von irgendwo hierher,
ich werde gehen von hier in ein anderes Hier
lautlos in der überfüllten Welt
der Tode und Wiedergeburten, der angstschreienden
Städte.
Ich werde ein Haus bewohnen
und vielleicht ein anderes,
werde meinen Namen in die Tür schreiben wo ein
anderer war
und ein anderer sein wird nach mir,
ich werde mit wenigen leben und wenige
verlassen,
und werde zur Tür hinausgehen, durch die ich eintrat,
ohne Trauer, ohne Freude und Verlangen,
unbemerkt von den Tälern und Gärten der Erde
werde ich sterben
Gib es zurück
…..
gib es den Männern zurück
die das schmutzige Futter,
das überschüssige Fleisch,
der Abfall der Erde sind,
gib es mir zurück heute Nacht
jetzt wenn ich auf dir liege,
deine geborgte Zeit,
den verschwendeten Saft –
das Leben …
…..
Ein Bier mit Bukowski
Das nächste Bier ist todsicher das Bier
zu viel, und während ich darauf warte
und schon spüre, wie der Schnaps die Nieren
zersetzt, mach ich schnell die Augen auf.
Was für einen Arsch die Frau an der Theke hat.
Die poröse Zunge der Fernsehansagerin.
Desaster im »Schmalen Handtuch«.
Desaster mit Krätze und Korn
und Ratten am Sack.
Desaster fürs Fleisch,
der Saft ging daneben,
die Perücke rutschte ins Ketchup,
sie ließ das Glas fallen,
dann sich selbst:
»Euch hab ich alle gefressen.«
Langsam das Bier aussüffeln und langsam
nach draußen gehen, langsam wie die Würmer
aus dem After kriechen, die Tellerminen
sind uns längst so egal
wie das Feuilleton.
Alles in Ordnung mit deiner Menschheit,
alles ganz klar;
wenns in der Hose feucht wird, gibt’s
drei Möglichkeiten:
Pisse, Blut oder kalter Bauer.
Such dir was raus.
Schlecht fürs Geschäft
Ah, heute fehlte mir völlig die Puste
für das Quentchen Wahnsinn,
das bescheidene Maß Rausch
ohne das wir lebendig vereist
und begraben sind,
ich lief rum
sah nichts
fand die Sonne grausig
die Jahreszeit albern
das Bier trist
Bäume gespenstisch, Menschen
mit ihren Gesichtern, ihrem
Geseire schlicht
fatal,
ficken hilft auch nichts,
schreiben ist wie Spuren
ins Spülwasser ritzen,
ein einziger Blick
in die Gegend genügt:
lächerlich, ein
Nirwana
für
Nieten.