WEISS, Peter



Die Ästethik der Widerstands

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Später einmal würde sie Lehrerin werden, gleich nach dem Krieg würde sie sich ausbüden lassen, um den Schülern zu erklären, wie das damals gewesen war. Die Schüler würden vor der großen Gedenktafel aus Marmor stehn, und sie würde versuchen, ihnen etwas von dem deutlich zu machen, was sich hinter den goldenen Namen verbarg. Vielleicht mußten die Namen herausgesucht werden aus den langen alphabetischen Reihen. Sie hoffte, daß die Schüler, wenn sie sich hindurchbuchstabierten, die Namen nicht, von einem zum andern, wieder vergaßen. Die Gestalt, das Gesicht, die Taten eines jedes einzelnen müßten so greifbar hervortreten, daß die Schüler sich die Namen merken konnten. Doch wie sollte sie ihnen das Aussehn Lundgrens beschreiben. Sie hätte nur sagen können, daß er hochgewachsen, helläugig und blond war. Und wenn man sie fragen würde, was ihn zu der Gruppe im Untergrund geführt habe, könnte sie bloß antworten, daß es ein Buch gewesen sei, von Neukrantz, Barrikaden am Wedding, das hatte er in seiner Jugend gelesen, und war davon so beeindruckt worden, daß er sich den Arbeitern in Berlin anschließen wollte. Deshalb hatte er sich um die Anstellung als Chauffeur bei der schwedischen Botschaft beworben. Wenn die Schüler sie fragen würden, ob ein Buch einen Menschen wirklich zum Handeln bringen könne, würde sie all die Bücher aufzählen, die es fertiggebracht hatten, in einem Menschen den Drang nach Handlung zu wecken. Sicher würden sie lange über solche Bücher sprechen, und vielleicht würde irgendeiner eine Erfahrung nennen, die er selber auf diesem Gebiet gewonnen hatte. Damit wäre schon viel erreicht.

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