PLENZDORF, Ultrch



Die neuen Leiden des jungen W.

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Ich war vielleicht ein Idiot, Leute. Das letzte, was ich merkte, war, daß es hell wurde und daß ich mit der Hand nicht mehr von dem Knopf loskam. Mehr merkte ich nicht. Es kann nur so gewesen sein, daß die ganze Hydraulik sich nicht bewegte. Auf die Art mußte die Spannung natürlich ungeheuer hochgehen, und wenn einer dann die Hand daran hat, kommt er nicht wieder los. Das war’s. Macht’s gut, Leute!

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Aus den Tonbändern wurde jedenfalls kein Mensch schlau. Immerhin ging so viel daraus hervor, daß Edgar [in Berlin und] gesund war, sogar arbeitete, also nicht gammelte. Später kam ein Mädchen vor, mit der es dann aber auseinanderging. Sie heiratete! Solange ich ihn hier hatte, hat er nichts mit Mädchen gehabt. Aber es war doch kein Fall für die Polizei!

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Außerdem hatte ich keine Zeit für Arbeit. Ich mußte an Charlie dranbleiben. An Charlie lag mir was, aber das sagte ich wohl schon. In so einem Fall muß man dranbleiben. Ich seh mich noch neben ihr hocken in diesem Auslauf, und die Gören spielten um uns rum. Charlie häkelte. Ein Idyll, Leute. Fehlte bloß noch, daß ich meinen Kopf in ihrem Schoß hatte. Ich hatte da keine Hemmungen, und ich hatte es auch schon einmal geschafft. Das Gefühl am Hinterkopf war nicht schlecht. Im Ernst.

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Zu Dieter will ich noch sagen: Wahrscheinlich war er ganz passabel. Es konnte schließlich nicht jeder so ein Idiot sein wie ich. Und wahrscheinlich war er sogar genau der richtige Mann für Charlie. Aber es hatte keinen Zweck, darüber nachzudenken. Ich kann euch nur raten, Leute, in so einer Situation nicht darüber nachzudenken. Wenn man gegen einen Gegner antritt, kann man nicht darüber nachdenken, was er für ein sympathischer Junge ist und so. Das führt zu nichts.

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Sie stieg aus, rannte diese triefende Eisentreppe hoch und war weg. Ich weiß nicht, warum ich ihr nicht nachrannte. Wenn ich in Filmen oder wo diese Stellen sah, wo eine weg will und er will sie halten, und sie rennt zur Tür raus, und er stellt sich bloß in die Tür und ruft ihr nach, stieg ich immer aus. Drei Schritte, und er hätte sie gehabt. Und trotzdem saß ich da und ließ Charlie laufen. Zwei Tage später war ich über den Jordan, und ich Idiot saß da und ließ sie laufen und dachte bloß daran, daß ich das Boot jetzt allein zurückbringen mußte.

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Ich war jedenfalls fast so weit, daß ich Old Werther verstand, wenn er nicht mehr weiterkonnte. Ich meine, ich hätte nie im Leben freiwillig den Löffel abgegeben. Mich an den nächsten Haken gehängt oder was. Das nie. Aber ich wär doch nie wirklich nach Mittenberg zurückgegangen. Ich weiß nicht, ob das einer versteht. Das war vielleicht mein größter Fehler: Ich war zeitlebens schlecht im Nehmen. Ich konnte einfach nichts einstecken. Ich Idiot wollte immer der Sieger sein.

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Ich weiß nicht, ob einer von euch schon mal über Sterben nachgedacht hat und das. Darüber, daß einer eines Tages einfach nicht mehr da ist, nicht mehr anwesend, ab, weg, aus und vorbei, und zwar unwiderruflich. Ich hab eine ganze Zeit oft darüber nachgedacht, dann aber aufgegeben. Ich schaffte es einfach nicht, mir vorzustellen, wie das sein soll, zum Beispiel im Sarg. Mir fielen nichts als blöde Sachen ein. Daß ich im Sarg liege, es ist völlig dunkel, und es fängt an, mich grauenhaft am Rücken zu jucken, und ich muß mich kratzen, weil ich sonst umkomme. Aber es ist so eng, daß ich die Arme nicht bewegen kann. Das ist schon der halbe Tod, Leute, wer das kennt. Aber da war ich doch höchstens scheintot! Ich schaffte es einfach nicht.

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