HAHN, Ulla
Das verborgene Wort
…
Lommer jonn, sagte der Großvater, laßt uns gehen, griff in die Luft und rieb sie zwischen den Fingern. War sie schon dick genug zum Säen, dünn genug zum Ernten? Lommer jonn. Ich hing mir mein Weidenkörbchen über den Arm und rief den Bruder aus dem Sandkasten. Mit dem Großvater ging es an den Rhein, ans Wasser. Sonntags mit den Eltern blieben wir auf dem Damm, dem Weg aus festgewalzter Schlacke. Zeigten Selbstgestricktes aus der Wolle unserer beiden Schafe und gingen bei Fuß. Mit dem Großvater liefen wir weiter, hinunter, dorthin, wo das
Verbotene begann, und niemand schrie: Paß op de Schoh op! Paß op de Strömp op!
Paß op! Paß op! Niemand, der das Schilfrohr prüfte für ein Stöckchen hinter der Uhr.
Vom Westen wehte ein feuchter, lauer Wind. Der Rhein roch nach Fisch und Metall, Seifenlauge und Laich, und das Tuten der Schleppkähne, bevor sie an der Raffinerie in die Kurve gingen, war schon jenseits des Dammes in den Feldern und Weiden zu hören.
Ich riß mich los von der Hand des Großvaters, rannte vorwärts, zurück, ergriff seine Hand, ließ sie fahren und hielt sie wieder, fiel hin und stieß mir das Knie, schrie, Freudenschreie, aufsässig und wild. In einem weiten Bogen führte ein Pfad die Böschung hinab durch sumpfige Wiesen, durchs Schilf ans Ufer aus Sand und Kies.
Großvater ging voran, dicht am Wasser entlang. Flache Wellen füllten die Mulden, die sein Klumpfuß im nassen Sand hinterließ, winzige Teiche, eine blinkende, blitzende Spur, wie nur er sie schaffen konnte.
Wo im seichten Wasser am Ufer die Algen schwangen, zeigte er uns den Bart des Wassermannes, ein gewaltiges grünes Gestrüpp, das nichts von seinem Gesicht erkennen ließ und von der Piwipp, einem Bootshaus am gegenüberliegenden Ufer, bis zur Rhenania reichte. Sprang ein Frosch hoch, sagte der Großvater Prosit! und wir riefen Hatschi! Der Riese hatte geniest.
Hürt ihr de Welle? fragte der Großvater und legte den rechten Mittelfinger auf den Mund. Den Zeigefinger hatte er als junger Mann in der Maggifabrik verloren, noch bevor er aus der Schweiz ins Rheinland gewandert war.
Wir hörten die Wellen und gaben Antwort, sprachen die Wellensprache; doch niemals so gut wie der Großvater, den keine Zähne mehr störten, der schlpp machte, schlpp wie die Wellen. Schlpp, schlpp, das hieß Ja, wenn die Welle die Kiesel am Ufer überströmte, Nein, wenn sie sich zurückzog. Ja und Nein; Ja und Nein. Der Rhein wußte Bescheid. Beides gehörte zusammen. Fragte man im richtigen Augenblick, bekam man die richtige Antwort.
Ganz wie die Menschen sprach der Rhein. Milde, wenn der Wind ihn nur leicht bewegte, herrisch und aufbrausend, wenn die Schleppkähne, bergehoch mit Kohle beladen, stromaufwärts tuckerten und ihre Wellen die verbotenen schwarzen Steinhaufen überspülten. Böse Riesen hätten die Haufen zusammengeworfen, um den Rhein aus seiner Bahn zu bringen. Aber die Kribben hielten den Rhein in seinem Bett, tobte er auch so zornig dagegen wie zu Hause der Vater.
Lieber hörte ich auf den Wind in den Bäumen. Kein Baum rauschte wie der andere. Sie sprachen anders zu allen Jahreszeiten, und im Winter verstummten sie beinah ganz. Sichtbar brachte der Wind Schilf und Pappeln zum Reden, die auf seinen geringsten Anstoß antworteten, als wollten sie ihm folgen. Lurt ens, sagte der Großvater, schaut mal, wenn im Frühjahr der Pappelsamen flog, do wandere de Bööm.
Wir sammelten flache Steine, nicht dicker als eine Graubrotscheibe, von der Großmutter geschnitten. Wenn der Großvater in die Knie ging und sie aus einer Drehung des Oberkörpers heraus übers Wasser schickte, war jede Berührung von Strom und Stein Station auf seiner Reise. Einmal, zweimal, dreimal Kiesberg, Holtschlößchen, Großenfeld; Endstation der Elektrischen, die halbstündlich hinter unserem Garten in den Gleisen quietschte. Wollten wir weiterreisen, mußten wir weiterzählen. Fünfmal ging es nach Rüpprich zum falschen Großvater, dem Stiefvater des Vaters, siebenmal war Schloß Burg. Zehnmal war Kölle. Ließ der Großvater einmal wie aus Versehen einen Stein, Plumps! versinken, schrien wir Düsseldörp! Eine glatte Null.
Bei unserer Weide sammelten wir Steine fürs Ritterspiel. Nie machten wir den ersten Ausflug im Jahr zu den Weiden, bevor wir nicht unter den größten und schönsten Busch, unter unsere Weide, die Großvaterweide, kriechen konnten und die Zweige über uns zusammenrauschten.
Kleine, runde Steine brauchten wir zuerst, Zwerge und Diener. Sie mußten mich zu Kaisern und Königen, Prinzessinnen und Feen, den Bruder auf die Spuren finsterer Räuber und kühner Ritter führen. War ein grauer Spitzling ein Räuberhauptmann oder doch ein Kunibert, ein Ritter? Hexen waren rauh und bucklig, Feen warm und glatt. Die Königsbraut, weiß, seidig und eiförmig, wurde mit Erde eingerieben; grau und unscheinbar getarnt, hatte sie unter tiefhängenden Weidenzweigen ihrer Erlösung zu harren. Die kam mit dem König, dem sonderbarsten und dicksten Stein, einem Kaiser, wenn er durchlöchert war. In einer Weidenkutsche machte er sich auf die Suche nach einer Frau. Einmal um die Weide, wo der Großvater auf seinem Taschentuch saß, ging der Weg in die weite Welt, gefährlich bevölkert von düsteren Räubern, die wir gemeinsam mit Ritter-Kuniberten einen nach dem andern in den Sand streckten.
Versteckte der Großvater die Königsbraut, vermuteten wir böse Mächte, bis er den Zauberstein aus seiner Westentasche zog und in die Sonne hielt, ein dunkellila Strahlenbündel, prächtiger als der Kranz der Maria im Kapellchen, das Auge Gottes in der Kirche, und ebenso allwissend. Immer blitzte der herrliche Stein dorthin, wo die Königin ihrer Entdeckung harrte. Frohgemut fuhr der Erlöser vor, lud die mit Erde Beschmierte auf und spülte sie hochzeitlich sauber in den Wellen des
Rheins.
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