JOHNSON, Uwe
Jahrestage
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Als Gesine Cresspahl im Frühjahr 1961 in diese Stadt kam, sollte es für zwei Jahre sein. Der Gepäckträger hatte das Kind auf seinen Karren gestellt und fuhr es mit Schwung durch die vergammelte Halle der Französischen Linie; das Kind nahm beide Hände auf den Rücken, als er seine ausstreckte und die Kappe abnahm. Marie war fast vier Jahre alt. Sie hatte nach sechs Tagen auf See den Mut verloren, in dem neuen Land auf den Rhein, auf den Kindergarten in Düsseldorf, auf die Großmutter zu hoffen. Gesine dachte an Marie immer noch als an »das Kind«, das Kind konnte sich kaum gegen sie wehren. Sie war besorgt, dieser Umzug könne vereitelt werden durch das Kind, das unter seinem weißen Kapotthut finster und verschüchtert gegen das Schmutzlicht der 48. StraßeWest blinzelte.
Sie hatte zwanzig Tage Zeit, eine Wohnung zu finden, und an jedem wehrte sich das Kind gegen New York. Das Hotel fand eine deutschsprachige Aufpasserin für sie, eine steifnackige betagte Schwarzwälderin in einem teerschwarzen Kleid voller Rüschen und Knopfleisten, die mit dünnem Sopran Lieder von Uhland singen konnte, aber die Emigrantin hatte mehr von ihrem Dialekt behalten als von dem Hochdeutsch, das vor fünfundzwanzig Jahren in Freudenstadt gesprochen wurde; das Kind antwortete ihr nicht. Das Kind zog mit Gesine durch die Stadt, ließ sie nicht von der Hand, stand dicht an sie gedrückt in den Bussen und Ubahnen, wachsam bis zum Mißtrauen, und ließ sich erst im späten Nachmittag von eintönigen Fahrtbewegungen in den Schlaf tölpeln. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern, wenn Gesine ihr aus den Wohnunganzeigen der New York Times vorlas, ihr lag nicht an den bewachten Fahrstühlen, nicht an der Klimamaschine; sie fragte nach Schiffen.
Sie sah mit einer Art Befriedigung umher in den Wohnungen, die Gesine erschwingen konnte, knausrig geschnittenen und schäbig möblierten Zimmern, drei Fenster zum nachtdunklen Hof und eins auf die kahle harte Gegenfront, teuer weil frei von Negern als Nachbarn; sie kamen den Gartenfenstern in Düsseldorf nicht gleich, die mußte sie sich nicht bieten lassen. Das Kind nahm sich kein englisches Wort an, sie ließ sich die Grüße und Zurufe und Schmeicheleien in Imbiß-Stuben im Bus in der Hotelhalle gefallen als sei ihr das Gehör ausgegangen, Antwort gab sie nur mit einem verzögerten wütenden Kopfschütteln bei niedergeschlagenen Lidern.
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