TIBI, Hassam



Leitkultur als Integrationskonzept – revisited

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In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer wen ändert: die Europäer die Muslime durch Europäisierung des Islam? Oder die Muslime Europa durch ihre Enklavenbildung in Form von Parallelgesellschaften, in denen die islamische Leitkultur dominiert? Da ich selbst Muslim und Europäer bin, schlage ich als Konfliktlösung einen interkulturellen Brückenschlag vor: Hierbei handelt es sich um das von mir 1998 eingeführtes Integrationskonzept der Leitkultur. Unter Leitkultur verstehe ich nichts anderes als eine säkulare wertebezogene Hausordnung. Der Konsens hierüber wird als Wertekonsens konzipiert und diesen nenne ich eben europäische Leitkultur. Leider ist die deutsche Diskussion hierüber sehr neurotisch verlaufen (vgl. Anm. 24 unten). Um es klar auszusprechen: Leitkultur hat weder mit einer "Operation Sauerbraten" (so Der Spiegel) noch mit einer "hegemonialen Unterdrückung" von zugewanderten Minderheiten durch die Aufnahmegesellschaft, so die linksgrüne Kritik, zu tun. Ich beginne diesen Aufsatz mit einer Rekonstruktion der Entstehung der Leitkulturdebatte.

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Identität und Migration

Vorab möchte ich festhalten, dass sowohl die angestrebte Leitkultur als auch die Bürgeridentität frei von Religion und Ethnizität sein müssen. Warum? Eine ethnische Identität kann nicht erworben oder übertragen werden. So kann beispielsweise ein ethnischer Kurde kein Türke werden, ebenso wie ein Deutscher kein Araber – oder umgekehrt – werden kann. Aber eine zivilisatorische, an Werten als leitkulturellem Leitfaden orientierte Identität eines Citoyen im Sinne der Aufklärung können Menschen unabhängig von ihrer Religion oder Ethnizität erwerben. Ich bin der Meinung, dass ein ethnischer Araber islamischen Glaubens nur dann ein wahldeutscher Verfassungspatriot werden kann, wenn diese Person auf ethno-religiöse Bestimmung verzichtet und parallel dazu, dass Deutsche den Begriff "deutsch" "ent-ethnisieren". Dies geschieht erst dann, wenn die stofflich-ethnische Bestimmung der "Deutschen" zugunsten der Citoyen-Identität aufgegeben bzw. überwunden wird. Dieselbe Leistung müssen jedoch auch Migranten erbringen. Dieses Ziel kann aber nicht durch Selbstverleugnung erfolgen, wie etwa die türkischstämmige Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration, Aydan Özoğuz, es von den Deutschen fordert, indem sie wirklich unzumutbar behauptete, außer der deutschen Sprache gebe es keine spezifisch-deutsche Kultur.[3] Welcher Unsinn! Welche Impertinenz, sage ich als Syrer mit deutschem Pass. Was aber ist unter nationaler Identität zu verstehen? Es lässt sich hier zwischen gewachsenen und konstruierten Identitäten wie folgt unterscheiden:

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Der zentrale Begriff in meinem Leitkulturkonzept ist Identität. Hier können Europäer von den USA lernen. Francis Fukuyama schreibt: "Tibi’s original notion was exactly on the mark and it´s short shelf-life only serves to indicate how big an obstacle political correctness is to open discussion of national identity". Fukuyama meint, die Europäer könnten von den US-Amerikanern lernen in Bezug auf Erfahrung mit Integration und Identität: "Americans may indeed have something to teach Europeans with regard to the creation of an open national identity"[7]. Konstruierte Identitäten sind sowohl in klassischen Einwanderungsländern (USA, Kanada und Australien) erforderlich als auch in Ländern der "Dritten Welt", die nach der Entkolonialisierung eine ethnisch gemischte Bevölkerung haben (z. B. Nigeria mit ca. 60 Ethnien oder Senegal mit 13 Ethnien). In den USA gibt es das übergeordnete Identitätsangebot des Amerikaners: "color blind, ethnicity blind, religion blind"; es basiert auf der Bejahung der Werte der American constitution und auf der Kultur des American way of life. In den USA war es bis zum Aufstieg des Multikulturalismus und seiner identity politics möglich, kulturelle Vielfalt im Rahmen des gesellschaftlichen Pluralismus stets mit einem Wertekonsens zu verbinden. Der postmoderne Multikulturalismus mit seiner Wertebeliebigkeit nimmt, weil kulturrelativistisch gesinnt, eine Frontstellung ein und lässt keine Leitkultur zu; hiermit trägt er zur Desintegration des Gemeinwesens bei. Am Beispiel der USA nennt Arthur Schlesinger dies "Disuniting of America".[8]

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Als in Deutschland lebender Einwanderer und Muslim und Urheber des Konzepts einer europäischen Leitkultur, die auch eine europäische Identität für Deutschland fordert, empöre ich mich über die Polemiken gegen dieses Konzept, das ich als Grundlage friedlichen Miteinanders, nicht Nebeneinanders, zwischen Einwanderern und ethnischen Deutschen geschaffen habe. Ich gehe weder hegemonial noch multikulturalistisch, sondern explizit kulturpluralistisch vor, ich nehme die Differenz/Vielfalt wahr, aber essentialisiere sie nicht, und ich lehne die Einordnung der Zuwanderer als Minderheiten mit Kollektivrechten bzw. Kollektividentität ab. Nach meiner Vorstellung von Leitkultur sind Menschen Individuen mit individuellen Rechten im Sinne des Citoyens. In Artikel 1 des Grundgesetzes ist die Rede vom Menschen als Individuum, nicht als Teil eines Kollektivs.


In diesem Klima einer vergifteten politischen Kultur versagt sich Deutschland eine demokratische Leitkultur sowie die hierzu gehörende eigene kulturelle Identität.[16] Es wird unterstellt, dass Leitkultur von einer homogenen Bevölkerung ausgeht, d.h. Vielfalt verleugnet, ja sogar eine "Unter-/Überordnung in der Beziehung zu den Fremden" beinhaltet. Das ist grob falsch und Unsinn. Es ist eine in allen anderen Demokratien selbstverständliche Tatsache, dass ein Gemeinwesen – gleich, ob monokulturell oder kulturell vielfältig – einen Konsens über Werte und Normen als eine Art innere Hausordnung benötigt. Dies ist die unerlässliche Klammer zwischen den in diesem Gemeinwesen lebenden Menschen, unabhängig von ihrer Religion, Ethnie oder Ursprungskultur.

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Leitkultur als Grundlage des Zusammenlebens

Es soll nochmals betont werden, dass es beim Konzept der Leitkultur darum geht, eine wildwüchsige Zuwanderung in eine an den Bedürfnissen des Landes und seine Fähigkeiten zur Integration orientierte Einwanderung zu verwandeln. Es bedarf einer Policy, um diese Einwanderer im Rahmen einer europäischen Identität zu integrieren. Genau darin besteht das Erfordernis einer rationalen Bewältigung unbestreitbar vorhandener Unterschiede und zugleich der Schaffung eines Konsenses über zentrale Normen und Werte hierzulande. Auch erkenne ich an, dass Einwanderung Grenzen hat sowie die Tatsache, dass das aufnehmende Land eine – wenngleich beschädigte – nationale Identität besitzt.[20] Innerer und sozialer Frieden bedürfen eines Einverständnisses über Gemeinsamkeiten. Diese nenne ich eine wertebezogene Leitkultur. Das ist ein Leitfaden und keine "Über-/Unterordnung", wie immer wieder gegen den Begriff polemisiert wird.

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Eine europäische Leitkultur, verbunden mit einer Europäisierung des Islam zum Euro-Islam, ist die Antwort auf die Islamisierung der Islam-Verbände. Dazu gehören

- das Primat der Vernunft vor religiöser Offenbarung, d. h. vor der Geltung absoluter Wahrheiten;

- individuelle Menschenrechte (also keine Minderheitenrechte als Gruppenrechte), zu denen im besonderen Maße die Glaubensfreiheit zu zählen ist;

- eine säkulare, auf der Trennung von Religion und Politik basierende Demokratie

- ein allseitig anerkannter Pluralismus sowie ebenso gegenseitig geltende Toleranz, die bei der rationalen Bewältigung von kulturellen Unterschieden hilft.

Die Geltung und Anerkennung dieser Werte als Leitkultur macht die Substanz der Zivilgesellschaft aus, Vielfalt im Rahmen von Pluralismus, nicht eine politische Kultur des "Anything Goes", d. h. der Beliebigkeit.