STRAUSS, Botho



Die eine und die andere

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INSA Wie wir hier sitzen! Was ist das bloß? Warum bist du auf einmal da? Warum gibt es dich? Warum gibt es mich? Wie wir hier sitzen

LISSIE Was, wenn wir nicht mehr hier säßen?

INSA Es ist ja nicht das Sitzen, es ist dieses endlose Sitzenbleiben! Das war mit dir schon immer so. Man sitzt jedesmal wie seit Jahrhunderten fest mit dir.

LISSIE Versuch nicht komisch zu sein.

INSA Ich bin komisch.

LISSIE Eigentlich bist du jetzt dran. Du massierst mich.

INSA Was hat zwei Flügel und rührt sich nicht?

LISSIE Ein Fenster.

INSA Jeder Mensch sollte dem anderen ein Fenster sein.

LISSIE Schöne Aussicht.

INSA Wir sind die, die wir waren. Seilhüpfende Gören all die Jahre. Die Zeit im Flug weht uns den Rock auf.

LISSIE Du hast den Würgegriff schon in den Fingern, wenn du mich am Hals massierst

INSA Lissie?

LISSIE Ja?

INSA Es ist das letzte Mal.

LISSIE Das letzte Mal was?

INSA Das letzte Mal, daß wir den ganzen Vormittag versitzen.

LISSIE Warum glaubst du?

INSA Ich weiß es.

LISSIE Es muß nicht sein.

INSA Glaub mir doch einfach mal.

LISSIE Du kannst doch nicht jetzt schon Tag für Tag von irgend etwas Abschied nehmen.
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Der letzte Deutsche

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Manchmal habe ich das Gefühl, nur bei den Ahnen noch unter Deutschen zu sein. Ja, es ist mir, als wäre ich der letzte Deutsche. Einer, der wie der entrückte Mönch von Heisterbach oder wie ein Deserteur 60 Jahre nach Kriegsende sein Versteck verlässt und in sein Land zurückkehrt, das immer noch Deutschland heißt – zu seinem bitteren Erstaunen. Ich glaube, ich bin der letzte Deutsche. Ein Strolch, ein in heiligen Resten wühlender Stadt-, Land- und Geistesstreicher. Ein Obdachloser.

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Der letzte Deutsche, dessen Empfinden und Denken verwurzelt ist in der geistigen Heroengeschichte von Hamann bis Jünger, von Jakob Böhme bis Nietzsche, von Klopstock bis Celan. Wer davon frei ist, wie die meisten ansässigen Deutschen, die Sozial-Deutschen, die nicht weniger entwurzelt sind als die Millionen Entwurzelten, die sich zu ihnen gesellen, der weiß nicht, was kultureller Schmerz sein kann. Ich bin ein Subjekt der Überlieferung, und außerhalb ihrer kann ich nicht existieren. Sie besteht im übrigen jenseits von Fürstenstaat, Nation, Reichsgründung, Weltkrieg und Vernichtungslager, nichts davon ist in ihr ein- oder vorgegeben, weder Heil noch Unheil trägt sie in sich, um es auszutragen. Zum Missbrauch kann soviel wie alles dienen.

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Umgekehrt bereiten aus Sicht nicht nur von Heiligen Kriegern die Ungläubigen immer alles zu ihrer Verurteilung vor. Sie Verzichten auf jede Verteidigung. Als ob ein geheimes Verlangen sie antriebe, das gesamte Ancien Régime der Nüchternheit, der Aufklärung und Emanzipation bald stürzen zu sehen.

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Aus solch innerer Leere und – infolgedessen – Angst, wird Willkommen geheißen, was Erlösung verheißt, indem es vor allem nicht der bekannten Umgebung entspringt. Wer seinem Nachbarn nicht helfen würde, umarmt die Ankömmlinge wie Montezuma den “weißen Gott” Cortez.

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Das Kopftuch sei Zeichen von religiöser Selbstverwirklichung einer Frau, so eine gütige Angehörige der Grünen. Trefflicher kann man sein verständnisvolles Unverständnis nicht in Worte fassen. Man muss eben auch den rituellen Gehorsam in die Sprache der Emanzipation übersetzen.

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