HAUPTMANN, Gerhart
Die Insel
Hier, wo mein Haus steht,
wehte einst niedriges Gras:
ums Herz Erinnerung weht,
wie ich dereinst
mit Freunden hier sass.
Wir waren zu drein,
vor Jahrtausenden mag es gewesen sein.
Es war einsam hier,
tief, tief!
So waren auch wir.
Verlassenheit über der Insel schlief.
Dann kam der Lärm,
ein buntes Geschwärm:
entbundener Geist,
verdorben, gestorben zuallermeist.
Und nun leben wir in fremdmächtiger Zeit,
verschlagen wiederum in Verlassenheit.
In meines Hauses stillem Raum
herrscht der Traum.
Der Untergang von Dresden
Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens. Dieser heitere Morgenstern der Jugend hat bisher der Welt geleuchtet. Ich weiß, daß in England und Amerika gute Geister genug vorhanden sind, denen das göttliche Licht der Sixtinischen Madonna nicht fremd war und die vom dem Erlöschen dieses Sternes allertiefst getroffen weinen. Und ich habe den Untergang Dresdens unter den Sodom-und Gomorrha Höllen der englischen und amerikanischen Flugzeuge persönlich erlebt.
Wenn ich das Wort "erlebt" einfüge, so ist mir das noch wie ein Wunder. Ich nehme mich nicht wichtig genug, um zu glauben, das Fatum habe mir dieses Entsetzen gerade an dieser Stelle in dem fast liebsten Teil meiner Welt ausdrücklich vorbehalten. Ich stehe am Ausgangstor meines Lebens und beneide alle meine toten Geisteskameraden, denen dieses Erlebnis erspart geblieben ist.
Ich weine. Man stoße sich nicht an das Wort "Weinen": die größten Helden des Altertums darunter Perikles und andere haben sich seiner nicht geschämt. Von Dresden aus, von seiner köstlich-gleichmäßigen Kunstpflege sind herrliche Ströme durch die Welt geflossen, und auch England und Amerika haben durstig davon getrunken. Haben Sie das vergessen?
Ich bin nahezu dreiundachtzig Jahre alt und stehe mit meinem Vermächtnis vor Gott, das leider machtlos ist und nur aus dem Herzen kommt: es ist die Bitte, Gott möge die Menschen mehr lieben, läutern und klären zu ihrem Heil als bisher.
Im Nachtzug
Es poltert der Zug durch die Mondscheinnacht,
die Räder dröhnen und rasen.
Still sitz’ ich im Polster und halte die Wacht
unter sieben schnarchenden Nasen.
Die Lampe flackert und zittert und zuckt,
und der Wagen rasselt und rüttelt und ruckt,
und weit, wie ins Reich der Gespenster,
weit blick’ ich hinaus in das dämmrige Licht,
und schemenhaft schau’ ich mein blasses Gesicht
im lampenbeschienenen Fenster.
Da rast es nun hin mit dem brausenden Zug
an Wiesen und Wäldern vorüber,
über Mauern, Stakete und Bäume im Flug,
und trüber blickt es und trüber.
Und jetzt, wahrhaftig, ich täusche mich nicht,
jetzt rollen über mein Schattengesicht
zwei schwere und leuchtende Tränen.
Und tief in der Brust klingt es und singt’s,
und fiebernd das Herz und die Pulse durchdringt’s,
ein wildes, ein brennendes Sehnen.
Ein Sehnen hinaus in das Mondscheinreich,
das fliegend die Drähte durchschneiden.
Sie tauchen hernieder und steigen zugleich,
vom Zauber der Nacht mich zu scheiden.
Doch ich blicke hinaus, und das Herz wird mir weit,
und ich lulle mich ein in die selige Zeit,
wo nächtlich tanzte am Weiher
auf Mondlichtstrahlen die Elfenmaid,
dazu ihr von minniger Wonne und Leid
der Elfe spielte die Leier.
Der Elfe, er spielte die Leier so schön,
die Graslein mussten ihm lauschen,
der Mühlbach im Sturze vernahm’s und blieb stehn,
vergessend sein eigenes Rauschen.
Maiblume und Rotklee weineten Tau,
und wonnige Schauer durchbebten die Au,
und Sänger lauschten im Haine.
Sie lauschten und lernten vom Elfen gar viel
und stimmten ihr duftendes Saitenspiel
so zaubrisch und rein wie das seine.
Vorüber, vorüber im sausenden Takt!
Kein Zauber nimmt dich gefangen,
der du schwindelhoch über den Katarakt
und tief durch die Berge gegangen.
Du rasender Pulsschlag der fiebernden Welt,
du Dämon, der in den Armen mich hält
und tragt zu entlegener Ferne!
Ich bliebe so gerne im Mondenschein
und lauschte so gerne verschwiegen allein
der Zwiesprach’ seliger Sterne!
Rauchwolken verhüllen das dämmernde Bild
und schlingen weisswogende Reigen.
Doch unter mir stampft es und schmettert es wild,
und unter mir will es nicht schweigen.
Es klingt wie ein Ächzen, es rieselt wie Schweiß,
als schleppten Zyklopen hin über das Gleis
den Zug auf ehernen Armen.
Und wie ich noch lausche, beklommen und bang,
da wird aus dem Chaos Donnergesang,
zum Grauen zugleich und Erbarmen.
“Wohl sind wir ein rauhes, blutdürstend Geschlecht,
mit schwieligen Händen und Herzen.
Doch gebt uns zum Leben, zum Sterben ein Recht
und nehmt uns die Last unsrer Schmerzen!
Ja, konnten wir atmen, im keuchenden Lauf,
nur einmal erquickend, tief innerlich auf,
so, weil du den Elfen bewundert,
so sangen wir dir mit Donnergetön
das Lied, so finster und doch so schon,
das Lied von unserm Jahrhundert!
Willst lernen, Poetlein, das heilige Lied,
so lausche dem Rasseln der Schienen,
so meide das schläfrige, tändelnde Ried
und folge dem Gang der Maschinen;
beachte den Funken im singenden Draht,
des Schiffes schwindelnden Wolkenpfad,
und weiter, o beuge dich nieder
zum Herzen der Armen, mitleidig und mild,
und was es dir zitternd und weinend enthüllt,
ersteh’ es in Tönen dir wieder!”
Es poltert der Zug durch die Mondscheinnacht,
die Räder dröhnen und rasen.
Still sitz’ ich im Polster und halte die Wacht
unter sieben schnarchenden Nasen.
Die Lampe flackert und zittert und zuckt,
und der Wagen rasselt und rüttelt und ruckt,
und tief aus dem Chaos der Töne,
da quillt es, da drangt es, da perlt es empor
wie Hymnengesänge, bezaubernd mein Ohr,
in erdenverklärender Schöne.
Und leise aufschwillt es, und ebbend verhallt’s
im schmetternden Eisengeklirre.
Und wieder erwacht es, und himmelauf wallt’s
hervor aus dem Tönegewirre.
Und immer von neuem versinkt es und steigt.
Und endlich verweht’s im Tumulte und schweigt
und labt mir ein heißes Begehren,
das sinneberückende Zaubergetön
von himmlischen Lenzen auf irdischen Hohn
zu Ende, zu Ende zu hören.
“Wir tragen euch hin durch die duftende Nacht,
mit keuchenden Kehlen und Brüsten.
Wir haben euch güldene Häuser gemacht,
indessen wie Geier wir nisten.
Wir schaffen euch Kleider. Wir backen euch Brot.
Ihr schafft uns den grinsenden, winselnden Tod.
Wir wollen die Ketten zerbrechen.
Uns dürstet, uns dürstet nach eurem Gut!
Uns dürstet, uns dürstet nach eurem Blut!
Wir wollen uns rächen, uns rächen!”