TORBERG, Friedrich
Sehnsucht nach Altaussee
(geschrieben in der Emigration in Kalifornien 1942)
Wieder ist es Sommer worden,
dritter, vierter Sommer schon.
Ist es Süden, ist es Norden,
wo ich von der Heimat wohn?
Kam ich auf der wirren Reise
nicht dem Ursprung wieder nah?
Dreht die Welt sich noch im Kreise –
ist es Sommer, dort wie da?
Gelten noch die alten Strecken?
Streben Gipfel noch zur Höh‘?
Liegt im bergumhegten Becken
noch der Altausseer See?
Bot sich einst dem Blick entgegen –
spiegelschwarz und wunderbar.
Himmel war nach manchem Regen
bis zum Dachsteingletscher klar!
Kulm und Kuppe: noch die kleinern
hielten Wache rings im Land.
Aufwärts ragten grün und steinern
Moosberg, Loser, Trisselwand.
Ins Plateau zu hohem Rahmen
wölbte sich die Pötschen schlank,
und es wuchsen die Zyklamen
nur auf ihrem drübern Hang.
Ach, wie war ich aller Richtung,
sommerlich vertrautes Kind!
Ach, wie war mir Wald und Lichtung,
Bach und Mulde wohlgesinnt!
Treibt’s mich heut‘ zum See, zur Klause?
Treibt’s mich auf die Blaa Alm hin?
Wird’s beim Fischer eine Jause,
wird’s ein Gang zur Wasnerin?
Wo die Triften sanft sich neigten
vom Geröll zum Flurgeheg –
ach, wo ist’s dass sich verzweigten
Hofmannsthal- und Schnitzlerweg?
Ach, wo hat’s mich hingetrieben!
Pötschen weiß ich und Plateau.
Aber welcher Hang ist drüben?
Aber die Zyklamen- wo?
Ballade der großen Müdigkeit
Ich bin von großer Müdigkeit befallen,
und alles, was ich weiß, ist mir zur Last.
Der Menschheit Jammer hat mich angefaßt
und kommt in immer kürzern Intervallen.
Man soll mich, bitteschön, zu nichts mehr drängen.
Man soll mich schlafen lassen. Es ist spät.
Man soll - wenn´s draußen denn schon weitergeht -
mir feuchte Tücher vor die Fenster hängen.
Ich bin zu alt und werde immer älter.
Ich lauf mir täglich ein Stück voraus,
und kaum gepflückter Impressionen Strauß
verwelkt mir im Erinnerungsbehälter.
Ich hab genug. Ich kann nichts Neues brauchen.
Ich blühe nicht mehr auf. Ich blüh hinab.
Wo geht´s denn da zur Wiege ... ? wo zum Grab .. ?
Ich möchte rückwärts in die Zeiten tauchen.
Ich möchte jünger sein und jedem grollen,
der mich belehrt: „Ja, sie ! Sie sind noch jung !“
Ich möchte Anlauf haben, Luft und Schwung.
Ich möchte wieder älter werden wollen.
Ich möchte vieles planen und erleben,
ich möchte kompliziert und schwierig sein
und jeder Neuerung begierig sein -
novarum rerum cupidus, nun eben.
Ich möchte wieder lachen oder weinen
(es wäre gar kein großer Unterschied)
und überlegen: wie man mich wohl sieht ?
Ich möchte etwas sein und scheinen.
Ich möchte mir ein hohes Ziel erküren,
wie es noch nie ein Mensch vor mir bedacht.
Ich möchte groß und schlaflos in der Nacht
das flügelschlagen meiner Sehnsucht spüren.
Ich möchte, weil ein Mädchen mir nicht glaubte,
das Leben und die Welt nicht mehr verstehen.
Noch lieber möchte ich zugrunde gehn,
weil sie mir nicht den kleinsten Kuß erlaubte.
Ich möchte in entlegnem Dämmergarten,
darauf der Juli rastet reglos warm,
mit einem Notenalbum unterm Arm
auf die, die mir seit gestern du sagt, warten.
Ich möchte jeden scheelen Blicks betrachten,
der mit den Mädchen überhaupt verkehrt,
und einen Freund besitzen, der mich lehrt,
die dummen Gänse gründlich zu verachten.
Ich möchte sämtlichen Verboten höhnen
und eines Tages in verwegner Flucht
entrinnen aller elterlicher Zucht
und nachher unter ihrer Willkühr stöhnen.
Ich möchte nie im fußballspielen rasten
und heimwärtsschleichen mit zerschundnen Knien.
Ich möchte Winnetou und Plastilin
und Matador und Richters Steinbaukasten.
Ich möchte staunend in die Tage treten
mit großen Augen und verwirrtem Sinn,
und lernen, wo ich wohne, wer ich bin.
Ich möchte vor dem Schlafengehen beten.
Ich möchte meine ersten Worte lallen
und schlummern ohne Wissen, ohne Ziel.
Ach alles, was ich weiß, ist mir zu viel.
Ich bin von großer Müdigkeit befallen.
Ich möcht´ hintüber sinken in die Kissen,
ich möcht´ dorthin, wohin ich geh, nicht gehn,
ich möchte alles, was ich seh, nicht sehn,
ich möchte alles, was ich weiß, nicht wissen,
lich möchte alles, was ich fühl, nicht fühlen
und ganz allein sein ... Nein, nicht ganz allein:
ich möchte gern zwei kleine Hunde sein
und miteinander spielen.
Großstadtlyrik
Fabriken stehen Schlot an Schlot,
vorm Hurenhaus das Licht ist rot.
Ein blinder Bettler starrt zur Höh,
ein kleines Kind hat Gonorrhoe.
Eitrig der Mond vom Himmel trotzt.
Ein Dichter schreibt. Ein Leser kotzt.
Auf den Tod eines Fußballspielers
Er war ein Kind aus Favoriten
und hieß Matthias Sindelar.
Er stand auf grünem Platz inmitten,
weil er ein Mittelstürmer war
Er spielte Fußball, und er wußte
vom Leben außerdem nicht viel.
Er lebte, weil er leben mußte
vom Fußballspiel fürs Fußballspiel.
Er spielte Fußball wie kein zweiter,
er stak voll Witz und Phantasie.
Er spielte lässig, leicht und heiter,
er spielte stets, er kämpfte nie.
Er warf den blonden Schopf zur Seite,
ließ seinen Herrgott gütig sein,
und stürmte durch die grüne Weite
und manchmal bis ins Tor hinein.
Es jubelte die Hohe Warte,
der Prater und das Stadion,
wenn er den Gegner lächelnd narrte
und zog ihm flinken Laufs davon.
Bis eines Tages ein andrer Gegner
ihm jählings in die Quere trat,
ein fremd und furchtbar überlegener,
vor dem's nicht Regel gab noch Rat.
Von einem einzigen harten Tritte
fand sich der Spieler Sindelar
verstoßen aus des Planes Mitte
weil das die neue Ordnung war.
Ein Weilchen stand er noch daneben,
bevor er abging und nachhaus.
Im Fußballspiel, ganz wie im Leben,
war's mit der Wiener Schule aus.
Er war gewohnt zu kombinieren,
und kombinierte manchen Tag.
Sein Überblick ließ ihn erspüren,
daß seine Chance im Gashahn lag.
Das Tor, durch das er dann geschritten,
lag stumm und dunkel ganz und gar.
Er war ein Kind aus Favoriten
und hieß Mattihas Sindelar.