OPITZ, Hellmuth



Liste kleiner Traurigkeiten


Der zu kurze Haarschnitt.

Das Schreiben des Anwalts.

Die Stimme von Lucinda Williams,

wenn sie um die Ecke eines

Abends biegt. Ach ja, der

Kaffeebecher mit dem Aufdruck

Autocentrum Rahlstedt, die

sommersprossenübersäte Schulter

und ihre Unerreichbarkeit am

anderen Ufer des Bettes.

Wunderbar kannst du das aufzählen,

zählst das auf, ohne mit der

Wimper, du weißt schon, aber

gerade jetzt, beim Aufschneiden

der Tütensuppe, erwischt es dich.

Du liest die Packung und es

ruckt in der Kehle, die Augen

brennen, du liest noch einmal

und es erwischt dich, erwischt

dich mit einem einzigen Satz:

Bitte heißes Wasser hinzufügen.



Charlotte Rampling in einem Hotelzimmer in Arles, nachts.


Nackt wie Newton

sie schuf: auf einem Tisch. Auf einem Stuhl

die Beine, durchgehend geöffnet,

als habe sie einen Liebhaber

aus den Flügeltüren ihrer Schenkel

entlassen und erwarte den nächsten.

Also: komm rein, wenn du ein Liebhaber

bist, ein Liebhaber zierlicher Vögel, die

auseinanderfliegen bei der geringsten Bewegung,

und die nur Blinde & Blöde für ihre

Titten halten. Sieh genau hin.


Das Zimmer. Fünfarmiger Leuchter, ein Teppich

aus mindestens Isfahan, Spiegel und Schnörkel und

Möbel, die schwersten Bedenken gegen das

Verrücktwerden. Und dann die Rampling:

auf ihren Rippen kannst du Klavier spielen.

Magere Melodien. Präludien einer Hotelsuite

für Klavier und einsame Körper. Also komm,

wenn du ein Liebhaber bist und Hände hast:

das ist ihr Körper. Alleingelassen. Und das

ist ihr Blick. Gelassen allein.


Diese Augen. Die grünen Scherben einer Flasche,

die ein Bedauern kühl und klar gehalten hat.

Ich weiß nicht, was sie zerschlug. Ein Verlangen

vielleicht. Das einzige, was brennt. Kein

Licht und die Liebe: nur Haut und Knochen.



Kaltes, klares Wasser


Kaltes, klares Wasser läuft über meine Hände

und du fragst mich, warum ich den Januar liebe.

Schau, sag ich, weil er ein Scheißkerl ist. Nie

kannst du dich auf ihn verlassen. Stehst du in

Hut und Mantel, kommt er unter falschem Namen

mit krokusfarbenem Hemd und einer Sonnenbrille

groß wie Ungarn. Und dann wieder strenger als

Erich von Stroheim: Eisigen Blicks, wenn er die

Küste abschreitet in preußischen Stiefeln und

den Nordwest knallen läßt überm Jadebusen, daß

Hamburg die Röcke rafft.


Wenn er Laune hat, schüttelt er Los Angeles

aus den Lumpen, der Lump, da tobt er über die

Highways, lachend und lärmend, da stürzen

Impalas und Chevrolets zuschanden. Doch noch

in derselben Nacht, acht Beben später, zieht

man ihn zitternd und lallend aus dem

Andreasgraben.


Manchmal aber will er einfach nur still

und weiß und Januar sein. Wie er im Ausweis

steht mit all seinen Vornamen: Schnee, Eis,

Verwehung. Ein leises Betäubungsmittel für

Städte und Straßen. Doch wer ihn einen warmen

Bruder heißt, dem droht er mit Winterlähmung

von der Hüfte abwärts, da fuchtelt er mit

Fäusten und Frösten von München bis Murmansk

knackt er alles zwischen seinen klirrenden

Knöcheln. Mögen den Spöttern die Lippen

zerplatzen und die Autos zerspringen, der

Januar wird sich das Recht des ersten Monats

nehmen und das noch junge Jahr beflecken

mit wüsten Schneeausschweifungen.


Bloß in diesem Jahr steht er herum wie ein

aufgetauter Kühlschrank, als reiße er seine

Zeit ab. Um genau zu sein: einunddreißig

Blätter, die vom Kalender wirbeln. Als stehe

nichts in seiner Macht, keine kalte Pracht

aus sibirischen Flüchen und knirschenden, vom

Reif überzuckerten Wiesen. Nur dieses müde

Winken vom Balkon, mit dem er der Welt seinen

Regen erteilt. Und kaum ist er weg, platzt schon

sein Vize herein, der farblose Februar. Auch der

ein Scheißkerl, sagst du, nur nicht so lang.