NIETZSCHE, Friedrich


An der Brücke stand


An der Brücke stand

jüngst ich in brauner Nacht.

Fernher kam Gesang:

goldener Tropfen quoll’s

über die zitternde Fläche weg.

Gondeln, Lichter, Musik –

trunken schwamm’s in die Dämmrung hinaus…


Meine Seele, ein Saitenspiel,

sang sich, unsichtbar berührt,

heimlich ein Gondellied dazu,

zitternd vor bunter Seligkeit.

– Hörte Jemand ihr zu?…



Im großen Schweigen


Hier ist das Meer, hier können wir die Stadt vergessen,

Zwar lärmen eben jetzt noch ihre Glocken das Ave Maria -

es ist jener düstere und törichte, aber süße Lärm

am Kreuzwege von Tag und Nacht -

aber nur noch einen Augenblick! Jetzt schweigt Alles!

Das Meer liegt bleich und glänzend da, es kann nicht reden.

Der Himmel spielt sein ewiges stummes Abendspiel

mit roten, gelben, grünen Farben, er kann nicht reden.

Die kleinen Klippen und Felsenbänder,

welche in's Meer hineinlaufen wie um den Ort zu finden,

wo es am einsamsten ist, sie können alle nicht reden.

Diese ungeheure Stummheit, die uns plötzlich überfällt,

ist schön und grausenhaft, das Herz schwillt dabei.

Oh der Gleissnerei dieser stummen Schönheit!

Wie gut könnte sie reden, und wie böse auch, wenn sie wollte!

Ihre gebundene Zunge und ihr leidendes Glück im Antlitz

ist eine Tücke, um über dein Mitgefühl zu spotten!

Sei es drum! Ich schäme mich dessen nicht,

der Spott solcher Mächte zu sein.

Aber ich bemitleide dich, Natur, weil du schweigen mußt,

auch wenn es nur deine Bosheit ist, die dir die Zunge bindet;

ja, ich bemitleide dich um deiner Bosheit willen!

Ach, es wird noch stiller, und noch einmal schwillt mir das Herz:

es erschrickt vor einer neuen Wahrheit, es kann auch nicht reden,

es spottet selber mit, wenn der Mund

etwas in diese Schönheit hinausruft,

es genießt selber seine süße Bosheit des Schweigens.

Das Sprechen, ja das Denken wird mir verhaßt:

höre ich denn nicht hinter jedem Worte

den Irrtum, die Einbildung, den Wahngeist lachen?

Muß ich nicht meines Mitleidens spotten? Meines Spottes spotten?

Oh Meer! Oh Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister!

Ihr lehrt den Menschen aufhören, Mensch zu sein!

Soll er sich euch hingeben?

Soll er werden, wie ihr es jetzt seid,

bleich, glänzend, stumm, ungeheuer, über sich selber ruhend?

Über sich selber erhaben?


Mit dem Fuße schreiben


Ich schreib nicht mit der Hand allein:

Der Fuß will stets mit Schreiber sein.

Fest, frei und tapfer läuft er mir

Bald durch das Feld, bald durchs Papier.


Der Wanderer

Es geht ein Wandrer durch die Nacht

Mit gutem Schritt;

Und krummes Thal und lange Höhn —

Er nimmt sie mit.

Die Nacht ist schön —

Er schreitet zu und steht nicht still,

Weiß nicht, wohin sein Weg noch will.

Da singt ein Vogel durch die Nacht:

“Ach Vogel, was hast du gemacht!

Was hemmst du meinen Sinn und Fuß

Und gießest süßen Herz-Verdruß

In's Ohr mir, daß ich stehen muß

Und lauschen muß — —

Was lockst du mich mit Ton und Gruß?

Der gute Vogel schweigt und spricht:

“Nein, Wandrer, nein! Dich lock' ich nicht

Mit dem Getön —

Ein Weibchen lock' ich von den Höhn —

Was geht's dich an?

Allein ist mir die Nacht nicht schön.

Was geht's dich an? Denn du sollst gehn

Und nimmer, nimmer stille stehn!

Was stehst du noch?

Was that mein Flötenlied dir an,

Du Wandersmann?”


Ecce Homo

Ja! Ich weiß, woher ich stamme!
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr' ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich.


Vereinsamt

Die Krähen schrei'n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei'n –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!

Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du, Narr,
Vor Winters in die Welt – entflohn?

Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt.

Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg', Vogel, schnarr'
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck' du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrei'n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei'n –
Weh dem, der keine Heimat hat!


Lieder II

Es ist der Wind um Mitternacht,
Der leise an mein Fenster klopft.
Es ist der Regenschauer sacht,
Der leis an meiner Kammer tropft.

Es ist der Traum von meinem Glück,
Der durch mein Herz streift wie der Wind.
Es ist der Hauch von deinem Blick,
Der durch mein Herz
schweift regenlind.


Zarathustra's Rundgesang

O Mensch, gib acht!

Was spricht die tiefe Mitternacht?
"Ich schlief, ich schlief –
Aus tiefem Traum bin ich erwacht!
Die Welt ist tief –
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief in ihr ist Weh, –
Lust, tiefer noch als Herzeleid!
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!"


Verzweiflung

Von Ferne tönt der Glockenschlag,
Die Nacht, sie rauscht so dumpf daher.
Ich weiß nicht, was ich tuen mag;
Mein Freud' ist aus, mein Herz ist schwer.

Die Stunden fliehn gespenstisch still,
Fern tönt der Welt Gewühl, Gebraus.
Ich weiß nicht, was ich tuen will:
Mein Herz ist schwer, mein Freud' ist aus.

So dumpf die Nacht, so schauervoll
Des Mondes bleiches Leichenlicht.
Ich weiß nicht, was ich tuen soll...
Wild rast der Sturm, ich hör' ihn nicht.

Ich hab' nicht Rast, ich hab' nicht Ruh,
Ich wandle stumm zum Strand hinaus,
Den Wogen zu, dem Grabe zu…
Mein Herz ist schwer, mein Freud' ist aus.



Noch einmal

Noch einmal, eh ich weiterziehe

und meine Blicke vorwärts sende,

heb ich vereinsamt meine Hände

zu dir empor, zu dem ich fliehe,

dem ich in tiefster Herzenstiefe

Altäre feierlich geweiht,

dass allezeit

mich seine Stimme wieder riefe.

Daraufer glüht tief eingeschrieben

das Wort: Dem unbekannten Gotte.

Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte

auch bis zur Stunde bin geblieben:

Sein bin ich—und ich fühl die Schlingen,

die mich im Kampf darniederziehn

und, mag ich fliehn,

mich doch zu seinem Dienste zwingen.

Ich will dich kennen, Unbekannter,

du tief in meine Seele Greifender,

mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender,

du Unfassbarer, mir Verwandter!

Ich will dich kennen, selbst dir dienen.


Aus hohen Bergen


Oh Lebens Mittag! Feierliche Zeit!

Oh Sommergarten!

Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten: -

Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit,

Wo bleibt ihr Freunde? Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!


Wars nicht für euch, dass sich des Gletschers Grau

Heut schmückt mit Rosen?

Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stoßen

Sich Wind und Wolke höher heut in's Blau,

Nach euch zu spähn aus fernster Vogel-Schau.


Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt -

Wer wohnt den Sternen

So nahe, wer des Abgrunds grausten Fernen?

Mein Reich - welch Reich hat weiter sich gereckt?

Und meinen Honig - wer hat ihn geschmeckt? ...


- Da seid ihr, Freunde! - Weh, doch ich bins nicht,

Zu dem ihr wolltet?

Ihr zögert, staunt - ach, dass ihr lieber grolltet!

Ich - bins nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht?

Und was ich bin, euch Freunden - bin ichs nicht?


Ein Andrer ward ich? Und mir selber fremd?

Mir selbst entsprungen?

Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen?

Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt,

Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt?


Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht?

Ich lernte wohnen,

Wo niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,

Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet?

Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht?


- Ihr alten Freunde! Seht! Nun blickt ihr bleich,

Voll Lieb' und Grausen!

Nein, geht! Zürnt nicht! Hier - könntet ihr nicht hausen:

Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich -

Hier muss man Jäger sein und gemsengleich.


Ein schlimmer Jäger ward ich! - Seht, wie steil

Gespannt mein Bogen!

Der Stärkste wars, der solchen Zug gezogen--:

Doch wehe nun! Gefährlich ist der Pfeil,

Wie kein Pfeil, - fort von hier! Zu eurem Heil!...


Ihr wendet euch? - Oh Herz, du trugst genung,

Stark blieb dein Hoffen:

Halt neuen Freunden deine Türen offen!

Die alten lass! Lass die Erinnerung!

Warst einst du jung, jetzt - bist du besser jung!


Was je uns knüpfte, einer Hoffnung Band, -

Wer liest die Zeichen,

Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen?

Dem Pergament vergleich ichs, das die Hand

zu fassen scheut, - ihm gleich verbräunt, verbrannt.


Nicht Freunde mehr, das sind - wie nenn' ichs doch? -

Nur Freunds-Gespenster!

Das klopft mir wohl noch Nachts an Herz und Fenster,

Das sieht mich an und spricht: "wir warens doch?"--

Oh welkes Wort, das einst wie Rosen roch!


Oh Jugend-Sehnen, das sich missverstand!

Die ich ersehnte,

Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte,

Dass alt sie wurden, hat sie weggebannt:

Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.


Oh Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit!

Oh Sommergarten!

Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!

Der Freunde harr ich, Tag und Nacht bereit,

Der neuen Freunde! Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!


Dies Lied ist aus, - der Sehnsucht süsser Schrei

Erstarb im Munde:

Ein Zaubrer tats, der Freund zur rechten Stunde,

Der Mittags-Freund - nein! fragt nicht, wer es sei -

Um Mittag wars, da wurde Eins zu Zwei...


Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiss,

Das Fest der Feste:

Freund Zarathustra kam, der Gast der Gäste!

Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riss,

Die Hochzeit kam für Licht und Finsternis...