WALSER, Martin
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Man erinnert sich immer am besten an das, was am meisten wehgetan hat.
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Ein fliehendes Pferd
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Helmut begriff allmählich, daß dieser Klaus Buch für einige ihm teure Jahre seines Lebens keine Zeugen mehr gehabt hatte. Und gerade aus diesen Jahren wollte er offenbar überhaupt nichts verloren gehen lassen. Zur Wiedererweckung des Gewesenen brauchte er einen Partner, der zumindest durch Nicken und Blicke bestätigte, daß es so und so gewesen sei. Ohne diesen Partner könnte er gar nicht sprechen von damals. Helmut sah, daß er es mit dem Kriegskameradenphänomen zu tun hatte. Er kannte diesen Wiedererweckungsfanatismus nicht.
Jeder Gedanke an Gewesenes machte ihn schwer. Er empfand eine Art Ekel, wenn er daran dachte, mit wieviel Vergangenheit er schon angefüllt war. Deckel drauf. Zulassen. Bloß keinen Sauerstoff drankommen lassen, sonst fing das an zu gären. Anders Klaus Buch. Wenn der einen Faden hatte, wollte er alle anderen anhängigen auch. Er konnte nicht nachgeben, bis er das ganze Gewebe eines Nachmittags vor 25 Jahren wieder vor sich zu haben glaubte. Oder doch das Muster. Oder die Farben. Oder wenigstens die Idee. Meistens wußte dieser Klaus Buch allerdings so genau Bescheid über das, was gewesen war, daß Helmut erschrak. Auf dem Rand des Marktplatzbrunnens hätten Geranienkisten gestanden, von denen sie, bevor Klaus Buch das von Helmut befohlene Bad habe nehmen können, zwei Kistchen heruntergenommen hätten. Die Theologiestudentin, du weißt doch, die mit dem Marika-Rökk-Gesicht und der gestickten Bluse, die habe sich umgedreht, als Klaus Buch mit dem Entkleiden begonnen habe. Weißt du nicht mehr, mit so halblangen nach innen gedrehten Haaren und oben auf den Haaren einen Zopf, der dann links und rechts in ihnen verschwunden sei oder aufgehört habe . . .
Helmut spürte einen brennenden Neid. Er hatte praktisch nicht gelebt. Es war nichts übrig geblieben. Hinter ihm war so ziemlich nichts. Wenn er sich erinnern wollte, sah er reglose Bilder von Straßen, Plätzen, Zimmern. Keine Handlungen. In seinen Erinnerungsbildern herrschte eine Leblosigkeit wie nach einer Katastrophe. Als wagten die Leute noch nicht, sich zu bewegen. Auf jeden Fall standen sie stumm an den Wänden. Die Mitte der Bilder blieb meistens leer. Er spürte, daß in ihm das Abenteuer endgültig zu Ende gegangen war. Das Erzählbare überhaupt.
Manchmal setzte er sich zwar hin und ließ in einer Art Panik alle Leute aufmarschieren, die er je kennengelernt hatte. Die Namen und Gestalten, die er aufrief, erschienen. Aber für den Zustand, in dem sie ihm erschienen, war tot ein viel zu gelindes Wort. Er hatte wahrscheinlich kein schlechteres Gedächtnis als andere. Auch zogen ihn Jugend und Kindheit in der bekannten Weise an. Aber dann konnte er nichts anfangen mit den stummen, geruchlosen, farblosen Szenen. Eine Zeit lang hatte er fanatische Erweckungsversuche betrieben. Einmal hatte er sogar angefangen, alles aufzuschreiben, was er von seinem Vater noch wußte. Sein Vater war Kellner im Hindenburgbau gewesen. Helmut hatte sich geekelt, als er sich erlebte, wie er die Gedächtnisfetzen zusammenleimte, wie er sie anmalte, behauchte, Texte erfand für sie. Für dieses Puppentheater war er zu alt. Etwas von früher lebendig zu machen, hieß doch, es auf eine Weise komplettieren, daß das Vergangene in jener Pseudoanschaulichkeit auferstand, die den Vergangenheitsgrad des Vergangenen einfach verleugnete. Was von seinem Vater nachher auf dem Papier stand, wollte den Schädelstättenzustand, in dem das Vergangene in ihm existierte, weglügen. Ihn interessierte gerade die Abgestorbenheit des Vergangenen. Klaus Buch erzählte offenbar das Vergangene am liebsten drastisch. Gibt es etwas, was weniger zusammenpaßt als Vergangenes und Drastisches? Bei Klaus Buch rollte es nur so von Tönen, Gerüchen, Geräuschen; das Vergangene wogte und dampfte, als sei es lebendiger als die Gegenwart. Die Erinnernden wurden kleine Männchen, die hmaufzeigten, in den Himmel, wo die Riesen saftig kämpften. Helmut sah nur Fetzen, Löcher, Gebleichtes, Verebbtes, Vernichtetes. Im Grunde tat er seit Jahr und Tag nichts, als sich vorzubereiten auf den Umgang mit dem Vernichteten. Ihn zog nichts so an wie dieses Vernichtete.
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Die Verteidugung der Kindheit
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Alfred war schon einmal bei Hartlebens gewesen. Nein, zweimal sogar. Das erste Mal: vor dem Krieg. Sein Vater und Arthur Hartleben waren ins Stadion gefahren zum fussbalspiel Deutschland-England, die Mutter, Aenne Hartleben, Herr Dr. Halbedl, die Halbedl-Tochter Wiltrud und Alfred hatten ein Ausflug nach Potsdam gemacht.
Es war Alfred, der nicht in Berlin gewesen sein wollte, ohne Potdsam gesehen zu haben. Dr. Halbedl stimmte zu. Ihm war Potdzm auch wichtiger als das Fussballspiel. Plötzlich waren sie gestoppt worden, hatten den Muschelsaal und den Thronsal nicht betreden dürfen, weil der Reichsaussenminister gerade Gäste durchs neue Palais führe.
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