LOERKE, Oskar
Nächtliche Körpermelancholie
Was ist nun Ich?
Die Füße sind wie Berge in der Ferne,
zu fremd und schwer, ich kann sie nicht bewegen.
Das Herz wie eine einsame Zisterne,
und viele öde Meilen mir entlegen.
Ich weiß:
Die Hand hängt tief in einem Wald von Kohle,
die Stirn trägt eine Hauptstadt, grell von Lichtern.
Auf meinen Füßen schläft das Eis der Pole,
darunter schluckt das Meer in Strudeltrichtern.
Ich werde nichts fürchten und nichts vermissen
und ohne Schmerz und ohne Hunger liegen
und nur soviel wie große Flügel wissen
auf einem Sterne mit Gestirnen fliegen.
Blauer Abend in Berlin
Der Himmel fließt in steinernen Kanälen;
Denn zu Kanälen steilrecht ausgehauen
Sind alle Straßen, voll vom Himmelblauen;
Und Kuppeln gleichen Bojen, Schlote Pfählen
Im Wasser. Schwarze Essendämpfe1 schwelen
Und sind wie Wasserpflanzen anzuschauen.
Die Leben, die sich ganz am Grunde stauen,
Beginnen sacht vom Himmel zu erzählen,
Gemengt, entwirrt nach blauen Melodien.
Wie eines Wassers Bodensatz und Tand
regt sie des Wassers Wille und Verstand
Im Dünen, Kommen, Gehen, Gleiten, Ziehen.
Die Menschen sind wie grober bunter Sand
Im linden Spiel der großen Wellenhand.